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Gebetsrufe in Deutschland

„Der Gebetsruf ist Ausdruck unserer multireligiösen Gesellschaft“

22:49 - November 11, 2018
Nachrichten-ID: 3000369
Gebetsrufe sind ein umstrittenes Thema in Deutschland. Wie sieht die Rechtslage dazu aus? Ob und unter welchen Bedingungen Moscheen den Gebetsruf hörbar ertönen lassen dürfen, erklärt der Jurist Prof. Dr. Stefan Muckel im Interview.

IslamiQ: Der Gebetsruf ist ein umstrittenes Thema in Deutschland. Welche Stellung hat der Gebetsruf im deutschen Recht?

Prof. Dr. Stefan Muckel: Der Gebetsruf genießt grundsätzlich den Schutz der Religionsfreiheit, Artikel 4 Absatz 1 und 2 Grundgesetz. Denn der Gebetsruf ist ein kurzes islamisches Glaubensbekenntnis und ist deshalb Teil der Bekenntnisfreiheit. Der Gebetsruf ist von seiner Funktion her dazu bestimmt, Menschen zum Gebet zu rufen, wie etwa zum Freitagsgebet. Nach der bisherigen Praxis wird üblicherweise in Deutschland der Gebetsruf einmal in der Woche für das Freitagsgebet bei den Moscheegemeinden, die überhaupt einen Gebetsruf nutzen, ausgerufen. Deshalb ist er ein Teil der Religionsausübung, weil er Menschen zum Gebet ruft.

IslamiQ: Also hat damit jede Moschee das Recht den Gebetsruf zu den Gebetszeiten erklingen zu lassen?

Muckel: Genau so ist das. Es gibt aber für jedes Recht in einem Rechtstaat Schranken. Je nachdem wie der Gebetsruf erschallt oder wie hoch die Lautstärke ist, wenn sich die Nachbarn in ihrer körperlichen Unversehrtheit beeinträchtigt fühlen beispielsweise, können diese Schranken zur Geltung kommen. Es ist z.B. entschieden, dass bei einem muslimischen Gebetssaal insbesondere in den Sommermonaten schon sehr früh eine ganze Menge Menschen mit dem Auto zum frühen Morgengebet kamen und die Nachbarn sich vom Lärm gestört fühlten. Sie haben sich dagegen durchsetzen können, sodass das Morgengebet in diesem Gebetssaal nicht mehr verrichtet werden konnte. Wenn um diese Uhrzeit ein Gebetsruf erschallen würde und die Nachbarschaft aufweckt, dann wäre dies ähnlich zu bewerten. Das ist auch ähnlich entschieden für das Glockenläuten. Da kann man z.B. durchsetzen, dass zwischen 22:00-06:00 Uhr – je nachdem wie die Situation in der Nachbarschaft ist und wie laut die Glocken sind -, diese zu den genannten Zeiten nicht erklingen dürfen.

IslamiQ: Das Einhalten der körperlichen Unversehrtheit der Nachbarn kann also ein Grund für ein Verbot des Gebetsrufes sein. Welche Gründe könnte es noch geben? Auf welche gesetzliche Grundlage stützt sich vor allem die Nachbarbeteiligung?

Muckel: Im Grunde muss man es sich so vorstellen: Der Gebetsruf kann untersagt werden, wenn die Grundrechte anderer betroffen sind. Wie Sie schon angesprochen haben, muss die körperliche Unversehrtheit in der Nachbarschaft gewährleistet werden. So ist es problematisch, wenn Nachbarn über einen längeren Zeitraum um ihren regelmäßigen Schlaf gebracht werden. Bei einem Gebetsruf, der nur einmal in der Woche zum Freitagsgebet erklingt, kann ich mir das nicht vorstellen. Denn es ist üblicherweise nicht in aller Frühe, sondern zur Mittagszeit. Selbst wenn jemand genau um diese Zeit seine Pause machen will, dann müsste er eben diese 5 Minuten abwarten. In dem, was wir besprechen, geht es hauptsächlich um die Nachtruhe.

IslamiQ: Gibt es einen konkreten Fall der Störung, der zu einem Verbot des Gebetsrufes geführt hat?

Muckel: Ja, es gab beispielsweise einen Fall, in dem das Minarett einer Moschee an einer Hauptstraße positioniert war. Die Entscheidung wurde mit der Begründung getroffen, dass der Gebetsruf Auto- und Fahrradfahrer irritieren und, wenn der Gebetsruf sehr laut war, diese auch erschrecken könnte. Insoweit könnte man sich vorstellen, dass bei einer viel befahrenen Straße die körperliche Unversehrtheit und vielleicht sogar das Leben gefährdet ist, falls die Fahrradfahrer sich erschrecken. Als Kompromiss könnte die Moscheegemeinde den Gebetsruf erklingen lassen, wenn die Straße nicht stark befahren wird, oder nach innen in den Hof, statt nach außen zur Straße.

IslamiQ: Nun hat das Verwaltungsgericht in Gelsenkirchen im Februar die Genehmigung, den Gebetsruf über Lautsprecher erklingen zu lassen, aufgehoben, weil sich ein Ehepaar in seiner Religionsfreiheit eingeschränkt gefühlt hatte. Dabei ging es weniger um die Lautstärke, sondern um den Inhalt des Gebetsrufes, der das Paar störte. Wie beurteilen Sie diesen Beschluss?

Muckel: Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen erscheint mir im Großen und Ganzen angemessen. Das hängt allerdings vor allem mit den Besonderheiten des Einzelfalls zusammen. Das Gericht hat den Bescheid über die Ausnahmegenehmigung für den Ruf des Muezzin als rechtswidrig betrachtet, weil die Behörde ihr Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt hatte. Dabei hat das Gericht entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts darauf hingewiesen, dass der Ruf des Muezzin in einer Parallele zu dem kirchlichen Glockenläuten zu behandeln ist. Das hatte die Behörde nicht berücksichtigt, und das Verwaltungsgericht verlangt nun, dass das nachgeholt wird.

In der Tat ging es in dem Fall darum, dass ein Ehepaar sich in seiner Religionsfreiheit, in seiner negativen Religionsfreiheit, beeinträchtigt fühlte. Das Verwaltungsgericht hat allerdings nicht gesagt, dass die negative Religionsfreiheit des benachbarten Ehepaars den Vorrang genießt vor der Religionsfreiheit der Moscheegemeinde, die den Ruf des Muezzin erschallen lassen möchte. Das Verwaltungsgericht hat lediglich gerügt, dass die Behörde auch diesen Aspekt nicht berücksichtigt hatte. Die Behörde hatte, obwohl die benachbarten Eheleute dies ausdrücklich geltend gemacht hatten, nicht einmal in Betracht gezogen, dass ihre negative Religionsfreiheit verletzt sein könnte.

IslamiQ: Das Gericht hat dann damit geantwortet, dass die frühere Genehmigung einen Ermessensfehler aufwies und deshalb aufgehoben wurde.

Muckel: Der Ermessensfehler, den das Verwaltungsgericht der Behörde angekreidet hat, bestand darin, dass die Behörde die Parallele zum Glockenläuten, die nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu ziehen ist, nicht berücksichtigt hatte. Außerdem hatte die Behörde, wie gesagt, die negative Religionsfreiheit der Eheleute gar nicht in Betracht gezogen. Ob die Eheleute sich damit durchsetzen, ist nicht gesagt, erscheint mir aber eher zweifelhaft. Entscheidend für das bisherige Verfahren war, dass die negative Religionsfreiheit der Eheleute gar nicht berücksichtigt worden war.

IslamiQ: Wäre das Empfinden der Nachbarn dann nicht ein subjektives Maß, beispielsweise wenn sie islamkritisch oder auch islamfeindlich eingestellt sind?

Muckel: Auf jeden Fall. Deswegen müssen sachverständige Gutachten eingeholt werden und prüfen, ob die Störungen, die die Nachbarn geltend machen, objektiven Maßstäben entsprechen oder ob sie in ihrer körperlichen Unversehrtheit berührt sind. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass niemand ein Recht darauf hat, von der Religionsausübung Dritter verschont zu werden.

IslamiQ: Zurück zu dem Blick auf Deutschland: Es sind etwa 30 von ca. 2500 Moscheen, die den Gebetsruf durch einen Lautsprecher verkünden. Warum ist die Zahl Ihrer Meinung nach so gering?

Muckel: Nach meiner Erfahrung gehen die Muslime traditionell zurückhaltend an die Sache heran. Muslimische Gemeinden sind oft darauf bedacht, keinen Ärger mit der Nachbarschaft zu provozieren. Die Moscheerufe, von denen ich weiß, sind in der Regel in den Innenhof gerichtet, manchmal sogar nur im Gebetssaal selbst zu hören. Wir leben in einer Zeit, in der der Islam in Deutschland heftig diskutiert wird. Da sind Muslime gut beraten, wenn sie sich weiterhin in Zurückhaltung üben. Denn sonst könnten Bestrebungen, die aus populistischen Gründen gegen den Islam gerichtet sind, weiterhin Zulauf gewinnen.

IslamiQ: In einigen Fällen wird die Bauerlaubnis einer Moschee nur dann erteilt, wenn sich die Moschee vertraglich dazu verpflichtet, auf den Gebetsruf von einem Minarett zu verzichten. Inwieweit ist solch eine Regelung vertretbar?

Muckel: Das halte ich rechtlich für bedenklich. Natürlich kann man in Verhandlungen eintreten, das ist z.B. auch bei der Zentralmoschee in Köln so geschehen. Es können etwa Vereinbarungen getroffen werden, die Minarette nicht ganz so hoch zu gestalten. Aber zunächst kommt es drauf an, ob das Bauwerk sich in das jeweilige einschlägige öffentliche Baurecht einfügt. Es gibt im Baurecht in Deutschland verschiedene Situationen je nachdem wie die rechtliche und tatsächliche Situation ist (z.B. ob ein Bebauungsplan besteht und wie die Umgebung bebaut ist). Da gibt es bestimmte Maßstäbe dafür, wie Bauwerke gestaltet werden dürfen. Aber abgesehen davon kommt es darauf an, dass Moscheebau Ausdruck der Religionsausübungsfreiheit ist. Da gelten einige Sonderregeln. Die kann man nicht durch die einfachen Vorgaben des Baurechts aufheben, indem man den Bebauungsplan so gestaltet, dass an einer bestimmten Stelle eine Moschee nicht mehr zulässig wäre. Was die Bauverwaltung machen kann, ist, auf die Muslime zugehen und offene Gespräche führen. Ich denke, man sollte in einen offenen und ehrlichen Dialog miteinander eintreten und einen Kompromiss finden.

IslamiQ: Beurteilen Sie den Gebetsruf eher als einen Konfliktauslöser oder als positives Zeichen des friedlichen Zusammenlebens so wie die Stadt Düren es beispielsweise behauptet, wo der Gebetsruf bereits seit mehr als 30 Jahren erklingt.

Muckel: Ich nehme wahr, dass der Gebetsruf zu Konflikten führt. Ich persönlich finde, dass der Gebetsruf Ausdruck unserer multireligiösen Gesellschaft geworden ist, der offenen Gesellschaft in der wir leben, die bunt geworden ist. Mir persönlich gefällt das.

IslamiQ: Was halten sie von Kompromissen wie das dreimalige statt fünfmalige Verkünden, sodass insbesondere morgens und in der Nacht niemand davon gestört wird, oder das Vermindern der Lautstärke an sich?

Muckel: Kompromisse sind eine gute Lösung. Ich muss aber ehrlich sagen, dass drei Mal am Tag immer noch zu viel sein wird, je nachdem wie die Umgebung gestaltet ist. Bei Moscheen am Rande der Stadt oder in Gewerbegebieten da kann ich mir das drei Mal am Tag vorstellen, da kann ich mir das sogar fünf Mal am Tag vorstellen.

IslamiQ: Moscheen im Gewerbegebiet. Hört sich so an als würde man die religiöse Sichtbarkeit der Muslime in den Hintergrund rücken wollen…

Muckel: Nein, verstehen Sie mich nicht falsch. Denn da wo die Menschen wohnen, sollen Gebetshäuser sein und nicht irgendwo am Rande in einem Gewerbegebiet. Wenn sie aber in die Wohngebiete kommen, dann muss man darauf gefasst sein, dass man weiter reichende Kompromisse treffen muss, vielleicht nur einmal zur Mittagszeit, zum Mittagsgebet den Gebetsruf erschallen lässt. Aber im Prinzip ist es vollkommen richtig. Kompromiss ist der Weg für die Lösung des Problems.

IslamiQ: Was würden Sie denn einer Moscheegemeinde raten, die auf den Gebetsruf besteht?

Muckel: Ich würde einer Moscheegemeinde nicht raten, auf den Gebetsruf zu bestehen. Das, was sie machen könnte, wäre mit der Nachbarschaft im größten Maße das Gespräch zu suchen und zu versuchen, um Verständnis zu werben.

IslamiQ: Sie stehen dem Vergleich des Gebetsrufs der Moschee mit der kirchlichen Glocke kritisch gegenüber. Warum ist das so?

Muckel: Der Gebetsruf ist mehr als ein Glockenläuten. Der Gebetsruf ist ein Glaubensbekenntnis. Der Gebetsruf hat einen verbalen Inhalt, während das Glockenläuten nur ein zeichenhaftes Signal ist. Glocken werden z.B. auch geläutet, wenn das neue Jahr beginnt. Glocken können aus verschiedensten Gründen erklingen. Demgegenüber ist der Gebetsruf des Muezzin inhaltlich ein Glaubensbekenntnis und hat somit vor der Religionsfreiheit Artikel 4 Grundgesetz im Ansatz ein größeres Gewicht als das Glockenläuten.

Das Interview führten Muhammed Suiçmez und Büşra Gök.

 

http://www.islamiq.de/2018/11/11/der-gebetsruf-ist-ausdruck-unserer-multireligioesen-gesellschaft/

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