IQNA

Wenn Brüder sich streiten freuen sich die Dritten in Idlib

16:31 - March 07, 2020
Nachrichten-ID: 3002319
Teheran (IQNA)- Am letzten Mittwoch (4. März 2020) kam es im türkischen Parlament zu einer Massenschlägerei nachdem der oppositionelle CHP-Abgeordnete Engin Özkoc eine Rede gehalten hatte, in der er mit teils rüden Worten Präsident Tayyip Erdogan vorgeworfen hatte mitverantwortlich für die gefallenen türkischen Soldaten in Syrien zu sein [1]. Es ist nicht das erste Mal, dass es im türkischen Parlament zu einer Schlägerei gekommen ist. Dieses Mal fand die Schlägerei der Volksvertreter, die ihre Emotionen nicht in Griff haben, in einer geschlossenen Sitzung statt, so dass lediglich einige Handy-Aufnahmen von der Schlägerei verbreitet worden sind [2]. Doch worum ging es? Ist es nicht erschreckend, wenn Volksvertreter nicht einmal bei der Ausübung ihres Berufes Selbstbeherrschung kennen? Und wer ist dieser Engin Özkoc?

Ein Beitrag von Yavuz Özoguz

Außer Insidern kannte auch in der Türkei vor diesem Ereignis kaum jemand den Redner, dessen Rede zur Schlägerei geführt hat. Der 58-jährige ledige Politiker ist eher als Hinterbänkler bekannt, der sich erst in den letzten Jahren zum Vizefraktionsvorsitzenden der oppositionellen CHP-Fraktion hochgearbeitet hat. Jetzt ist er – zumindest kurzzeitig – berühmt. Seine Vorwürfe gegen den Staatspräsidenten waren heftig: „Suchen Sie den Satan? Sie sind der Satan, der Geschäfte mit den USA abschließt (für Idlib). Sie haben unsere Soldaten dafür in den Tod geschickt […] Wer Märtyrer Lämmer nennt, ist unehrenhaft. Wer Märtyrer Lämmer nennt, ist ehrlos in der türkischen Republik. Wer Märtyrer Lämmer nennt, ist ein Verräter. Diese Person kann nicht Präsident der Türkei sein.“ Özkoc hatte dabei die gleichen Begriffe gewählt, mit denen Präsident Erdoğan während seiner Rede zwei Tage zuvor die CHP belegt hatte, „unehrenhaft, ehrlos und verräterisch“.

Özkocs Rede ging selbst einigen CHP-Parteifreunden zu weit und Parlamentspräsident Mustafa Sentop verurteilte die Rede. In der daraufhin anberaumten Sitzungspause kam es zu besagter Schlägerei, an der sich Dutzende von Parlamentariern beteiligt haben, während andere versuchten, die Schlägerei zu beenden. Die Schlägerei hat ein juristisches Nachspiel. Der Anwalt von Erdogan gab bekannt, dass der Präsident Anzeige wegen Präsidentenbeleidigung erstattet habe und eine Million türkische Lira Schadensersatz (ca. 145.000 €) wegen persönlicher Beleidigung fordere. Der Justizminister hat bereits die Aufhebung der Immunität Özkocs beantragt.


 

Zwei Tage nach der Schlägerei flog Präsident Erdogan zum russischen Präsidenten Putin nach Moskau, wobei sich beide Seiten gegenseitig vorwerfen die Vereinbarung von Sochi aus dem Jahr 2018 gebrochen zu haben. Nach einer langen Verhandlung wurde eine neue Waffenruhe für Idlib vereinbart, die offensichtlich vorerst hält [3]; doch wer weiß wie lange? Die USA werden die Waffenruhe zu verhindern wissen.

Solch eine Schlägerei ist für alle Türken äußerst peinlich, verdeutlicht sie doch, welche Art von Volksvertretern im Parlament sitzen. Die Spaltung der Gesellschaft geht dabei mitten durch das Land und jede Seite wirft der anderen vor, die gesamte Schuld an allem allein zu tragen. Doch während im türkischen Parlament „nur“ einige blaue Flecken erzeugt worden sind, sterben in Idlib türkische und syrische Soldaten. Tausende und Abertausende unschuldiger Frauen und Kinder sind auf der Flucht.

Die Ausgangslage in Idlib wird überdeckt von viel zu vielen Interessen. Russland und der Iran sind der Meinung, dass der amtierende syrische Präsident Assad das legitime Staatsoberhaupt ist und setzen sich für seinen Schutz und die Einheit und Souveränität Syriens ein. Die Türkei ist der Meinung, dass Assad abzusetzen sei, weil er sein Volk bekämpfe und vertreten eine Position, die zum Abbruch der politischen Beziehungen der Brüdervölker geführt hat.

Die USA wollen in der Region vor allem die aufkommende islamische Befreiungstheologie mit allen erdenklichen Mitteln bekämpfen und unterstützen mal die eine und mal die andere Seite, je nachdem was aktuell nützt. So unterstützen die USA kurdische Separatistenbewegungen, wenn es gegen die Türkei geht, aber die Türkei, wenn es gegen Assad geht. Die USA stehen auch in Libyen an der Seite derjenigen, die das System stürzen wollen, dort kämpfen sich auch gegen die Türkei. Bei den USA muss man wissen, dass sie weder für noch gegen die Türkei, weder für noch gegen Libyen sind, sondern einfach nur die gesamte Welt in einem Chaos versinken lassen wollen, um sie zu beherrschen und auszubeuten! Die Türkei ist an der syrischen Grenze Leidtragender von weit über drei Millionen syrischen Flüchtlingen, die versorgt werden müssen. Einige Zahntausend kommen gerade dazu, während Deutschland nicht einmal Fünftausend aufnehmen möchte.

Die Saudis unterstützen im Schlepptau der USA die Kopfabschneider-Terroristen, die sich in Idlib verschanzt haben. Israel unterstützt jeden Terroristen dieser Welt, welcher der Existenz des Apartheidsstaates nützt. Daher ist die Destabilisierung Syriens für Israel von größtem Interesse. Der Libanon braucht ein stabiles Syrien in der Nachbarschaft, dass nicht von salafistischen Mörderbanden beherrscht wird. Selbst die Christen im Libanon haben die eigene Hizbullah unterstützt, als diese in Syrien die von den USA eingesetzten Terroristen bekämpft hat. Viele christliche Dörfer, aber auch die Europäer, verdanken der Hizbullah und Beratern wie General Qasim Sulaimani ihren Schutz [4]. Die Europäer wollen keine neuen Flüchtlinge und waren bereit der Türkei dafür viel Geld zu bezahlen, dass sie die Flüchtlinge versorgt. Als es aber Streitigkeiten um Ölbohrungen im Mittelmeer gab, haben sie gleichzeitig die Türkei sanktioniert. Erdogan hat nunmehr mit der Öffnung der Grenze für Flüchtlinge nach Europa reagiert, worauf sämtliche europäische Werte als westliche Propaganda entlarvt worden sind [5].

Diese sicherlich mehr als komplexe Lage ließe sich noch seitenlang weiter auflisten, doch am Ende bliebe das gleiche Ergebnis: Hunderte muslimischer Soldaten sterben auf allen Seiten und Tausende muslimischer Flüchtlinge, vor allem Frauen, Kinder und Alte, aber auch einige hilflose Christen sind unter widrigsten Bedingungen auf der Flucht.

Für einen realistischen Lösungsansatz zur Konfliktbewältigung bedarf es auch eines Blicks in die Geschichte. Die heutige Grenze zwischen der Republik Türkei und Syrien hat es mehrere Jahrhunderte lang nicht gegeben. Araber, Kurden und Türken haben in Frieden miteinander gelebt. Ehen zwischen den Volkgruppen waren keine Seltenheit. Die Gelehrten in der Bevölkerung beherrschten grundsätzlich mehrere der Sprachen! Erst als die Kolonialisten und heutigen Imperialisten das Osmanische Reich zerschlagen haben, wurden die Gebiete unter Engländern, Franzosen, Italienern usw. aufgeteilt. Nach dem ersten Weltkrieg haben die Besatzer den Hedschas, Jemen, Syrien, Palästina, Mesopotamien und weitere Gebiete brutal zerstückelt und ein jeweiliges „Nationalbewusstsein“ etabliert, mit dem jeder sich „stolz“ fühlen sollte, der jeweiligen eigenen Nation anzugehören. Dabei ist Stolz sowohl im Islam als auch in Christentum eine große Sünde.

„Wie glücklich (kann der sein), der sich Türke nennt“ ist einer der berühmtesten Aussprüche des türkischen Republikgründers Atatürk, den jeder Türke kennt. Atatürk bekämpfe den damaligen europäischen Nationalismus mit dem neuen türkischen Nationalismus. Ähnliches wurde auch allen anderen beigebracht nach dem Motto „teile und herrsche“. Besonders absurd wirkt solch ein Spaltung bei Sattelitenstaaten wie dem Libanon, und den Libanesen, die auf keinen Fall Syrer sein wollen (und umgekehrt). Die Kurdenfrage wird bis heute von den Imperialisten gleich gegen mehrere Staaten missbraucht [6].

Eigentlich hätte das westliche Betrugssystem keine Chance gegen das islamische Ideal [7], aber es gelingt den Imperialisten bis heute ihr menschenfeindliches Weltbild zu exportieren. „America first“ hat nicht dazu geführt, dass vernünftige Menschen in der Welt verstanden hätten, dass man sich zusammenschließen muss gegen den „Großen Satan“ [8]. Vielmehr hat es dazu geführt, dass alle Anbeter des Freiheitsgötzen der USA jetzt so denken: Deutschland den Deutschen, Brexit für England usw. Und jener Nationalvirus, den die Westliche Welt der islamischen Welt eigeimpft hat und bis heute einimpft, ist eines der Hauptgründe für die Konflikte in der Region. Präsident Erdogan verteidigt in Idlib und anderen Regionen der türkischen Grenze türkische Interessen, wie er sie versteht, unabhängig davon, ob er dafür einmal mit den USA zusammenarbeitet und einmal dagegen. Und deutsche Politiker schützen nicht irgendwelche Hilfsbedürftigen, sondern vor allem ihre eigene Macht gegen die AFD.

Wer die Welt nur in den Kategorien aktueller Machthaber denkt, hat keine Vision für die Zukunft. Weder Erdogan noch Assad werden ewig leben. Aber die Länder Türkei und Syrien werden auch dann noch Nachbarn sein, wenn wir alle nicht mehr leben. Für die muslimische Welt – auch für die Region um Idlib – gibt es letztendlich nur eine langfristige Lösung; eine Vision, die wir zumindest im Herzen schon einmal anstreben müssen! Die künstlichen Grenzen der Imperialisten müssen überwunden werden. Genau wie heute ein Bürger ohne Grenzkontrollen von Deutschland über sämtliche Beneluxländer durch Frankreich nach Spanien reisen kann, genauso muss der Türke aus Istanbul ohne Grenzkontrollen über Aleppo nach Beirut und dann Damaskus fahren können, um danach weiter über Bagdad und Nadschaf auch Teheran und Maschhad zu besuchen. Das ist nur dann möglich, wenn wir aufhören „stolz“ zu sein auf eine „Nation“, die wir uns gar nicht aussuchen konnten! Gott hat dem Menschen die Freiheit geschenkt, die Freiheit zum Bekenntnis zu Gott. Es ist der Satan, der den Menschen einsperren will in Schubladen, Zwangsjacken und Nationalgefühle. Ein gottesehrfürchtiger Mensch ist vor allem zuerst Mensch! In seinen Adern fließt das gleiche Blut wie in den Adern seiner Menschengeschwister. In seinem Herzen schlägt der gleiche Geist Gottes, der jedem Menschen ausgeschüttet worden ist. Als Mensch gibt es für ihn keinen Unterschied zwischen einem Araber, Türken, Kurden oder Deutschen.

Es gibt aber einen Unterschied zwischen Unterdrückern und Unterdrückten. Die Unterdrücker unterdrücken den Geist Gottes im eigenen Herzen und damit die gesamte Menschheit in dem Maß, in dem sie fähig dazu sind. Es ist wichtig die „kleineren“ Unter-Unterdrücker zu befreien, um die Ober-Unterdrücker bloßzustellen. Erst wenn das imperialistische System angeführt von den USA und Israel überwunden ist, haben die Völker im Orient – ob Muslim, Christ oder Jude – eine Chance in wahrem Frieden zu leben. Dann wir es auch keinen Unterschied mehr machen, ob jemand Araber, Türke, Kurde oder Iraner ist. Es wird keinen Unterschied machen, ob jemand Syrer, Libanese, Palästinenser, Jordaniern oder Iraker ist. Dann macht es auch keinen Unterschied mehr, ob jemand deutsche, japanische oder afrikanische Vorfahren hat, denn alle Menschen sind Geschwister. Daher sollten sie sich wie Menschen verhalten und nicht wie Tiere.

“O ihr Menschen! Wahrlich, Wir schufen euch aus Mann und Frau und machten euch zu Völkern und Stämmen, damit ihr einander erkennet. Der Ehrwürdigste unter euch ist vor Gott der ehrfürchtigste unter euch. Wahrlich, Gott ist wohl wissend und hat Kunde über alles.” (Heiliger Quran, 49:13)

[1] https://deutsch.rt.com/kurzclips/98895-a...erdogan-kritik/
[2] https://www.youtube.com/watch?time_conti...eature=emb_logo
[3] https://www.dw.com/de/waffenruhe-in-idli...hend/a-52658147
[4] Was verdankt Europa dem Märtyrer Qasim Sulaimani?
[5] https://www.tagesschau.de/kommentar/grie...kei-eu-101.html
[6] http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24249
[7] Das westliche Betrugssystem hat keine Chance gegen das islamische Ideal
[8] http://www.eslam.de/begriffe/g/grosser_satan.htm

 

 

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