IQNA

Leben mit Corona: Wie ein Virus die Schwächen der Moscheen offenbart hat

1:16 - May 03, 2020
Nachrichten-ID: 3002540
Teheran (IQNA)- Etwas Gutes hat das Coronavirus jetzt schon bewirkt: Die muslimischen Gemeinden haben ihre Verwundbarkeit entdeckt. Doch während einige Gemeinden beginnen, ihre Versäumnisse langsam aufzuarbeiten, ist es für andere zu spät: Sie müssen schließen, und das für immer.

Ein Beitrag von Hadi Awad

Deutschland lockert seine Corona-Maßnahmen. Nach Wochen der harten Stilllegungspolitik hat die Bundesregierung die von vielen Bürgern erhoffte Lockerung der Corona-Regeln beschlossen. Das hat auch bei vielen gläubigen Muslimen in diesem Land für Freude gesorgt, die nach Wochen der Auszeit nun darauf hoffen, ihre Moscheen bald wieder öffnen zu dürfen. Doch so groß die Freude auf eine baldige Öffnung auch sein mag, so wenig darf sie uns vergessen lassen, was acht Wochen Lockdown fatalerweise offenbart haben: Unsere Moscheen brauchen Reformen, und zwar dringend.

Wie tief diese Reformen gehen, und wie stark wir unsere bisherige Arbeitsweise in unseren Moscheen ändern müssen, zeigt sich an den vielfältigen Problemen, die mit dem Coronavirus zum Vorschein kamen. Probleme, die sich tief eingenistet haben und von der kleinsten Gemeinde bis zum Dachverband reichen. Mit dem Coronavirus haben wir jetzt, vielleicht zur richtigen Zeit, ein Alarmsignal erhalten. Ein deutlicher Warnschuss, der die Moscheeverantwortlichen heute zwingt, die Mängel und Versäumnisse von gestern schnellstmöglich aufzuarbeiten.

Ich möchte nun einige dieser Probleme ansprechen und zeigen, in welchen Bereichen wir uns dringend weiterentwickeln müssen. Mir geht es darum, für unsere Moscheen die richtigen Lehren aus dieser Zeit zu ziehen, die viele unserer Mängel deutlich zum Vorschein gebracht hat. Mängel, die meistens deshalb welche sind, weil sie nicht dem Geist der Zeit entsprechen. Lassen wir sie so stehen, werden sie unsere Moscheen früher oder später ruinieren, zumal viele Moscheen schon jetzt die Folgen dieser Probleme zu spüren bekommen.


1. Finanzielle Abhängigkeit

Der erste Punkt ist zugleich auch der wichtigste: Es geht um die Finanzierung unserer Moscheen. Es waren keine zwei Wochen nach den Corona-Einschränkungen vergangen, da kamen die ersten Meldungen über die finanzielle Notlage vieler Moscheegemeinden.[1] Die ersten Forderungen nach finanzieller Unterstützung drangen in den Vordergrund. Bis heute berichtet die Presse von weggefallenen Spenden und Einnahmen und der Forderung nach staatlicher Hilfe für unsere Moscheen.[2] Die Coronakrise hat viele Moscheen in finanzielle Schwierigkeiten gebracht. Im benachbarten Österreich stehen laut dem Kurier sogar ein Drittel der Moscheegemeinden vor dem finanziellen Kollaps. Vor allem wegen den ausfallenden Freitagsgebeten, an denen für gewöhnlich hohe Summen an Spenden eingetrieben werden, können die Moscheen ihre laufenden Kosten nicht mehr decken. Es ist, als wäre mit den Spenden zum Freitagsgebets die größte finanzielle Achse von ein auf den anderen Tag weggebrochen. Und während die einen ihre Moscheen dicht machen müssen, stehen die anderen kurz vor dem Ruin.

An dieser Stelle müssen wir uns die Frage gefallen lassen, wie es sein kann, dass wir es über Jahrzehnte nicht geschafft haben, unser Zahlungssystem zu reformieren. Wie kann es sein, dass die meisten Moscheen sich immer noch von Spenden an Freitagsgebeten oder den Tagen von Aschura über Wasser halten? Warum müssen sich die Vorstände immer noch von Tür zu Tür kämpfen, um Gelder für die Miete der Moschee einzutreiben? Und warum haben es die Verantwortlichen über die Jahre nicht geschafft, Geld für gerade mal zwei Monatsmieten aufzusparen?

Es steht außer Frage, dass wir uns in dieser Hinsicht dringend weiterentwickeln müssen. Wir müssen unser Zahlungssystem reformieren, wenn wir unsere Moscheen auch in Zukunft am Leben halten wollen. Wie ich schon vor zwei Jahren schrieb, dürfen wir die finanzielle Deckung unserer Moschee- und Gemeindekosten nicht von Spendeneinnahmen an Freitags- und Aschuratagen wie auch von leidenden Hausbesuchen abhängig machen. Vielmehr sollten wir unsere Kosten durch verpflichtende Mitgliedsbeiträge unserer zahlfähigen Moscheemitglieder decken, die in Form von Daueraufträgen und -lastschriften in die Moscheekasse eingezahlt werden. Diese Einnahmen sollten mindestens die monatlichen Fixkosten der Moschee finanzieren können, erst dann haben wir eine Grundsicherheit. Natürlich können und sollten wir auch weiter zu Spenden an Freitagsgebeten oder anderen Anlässen aufrufen. Nur sollte die Deckung der monatlichen Kosten nicht von diesen Spenden abhängig gemacht werden, vielmehr sollten sie als Rücklage für schwere Zeiten dienen.

Die Beibehaltung der Praxis, an Freitagen oder anderen Anlässen zu Spenden aufzurufen, kommt auch denen entgegen, die es auch nach hundertmaligen Überzeugungsversuchen nicht schaffen, von alten Gewohnheiten abzulassen und mit dem Geist der Zeit mitzugehen. Hier ist es die Aufgabe der Gelehrten, die Freitagspredigten zu nutzen, um über neue Moscheereformen zu sprechen. Denn nur so können auch die Konservativen ein Bewusstsein für konstruktive Veränderungen entwickeln. Mit dem Coronavirus haben die Imame der Moscheen einen ideale Grundlage, bald, nach Öffnung der Gemeinden, wichtige Moscheereformen in den Predigten zu erörtern. Gerade jetzt, wo auch die Konservativen miterleben, wie ihre Moscheen finanziell zu Grunde gehen, ist der Zeitpunkt günstig, sie von neuen, für ihre Moscheen überlebenswichtigen Reformen zu überzeugen.

Besser aber als eine Räumlichkeit anzumieten und monatliche Mietkosten zu zahlen, ist es, gleich eine Räumlichkeit zu kaufen. Auch hier haben es die Verantwortlichen der Moscheen über die Jahre versäumt, ihre Mitglieder auf die Vorteile eines Kaufes gegenüber der Anmietung aufmerksam zu machen. Dabei kann uns letztlich nur der Kauf einer Räumlichkeit stark und unabhängig machen.

Heute liegt es an den neuen Vorständen, aus den Fehlern der Vorangegangen zu lernen und alle Maßnahmen zu ergreifen, die den Kauf einer Moschee beschleunigen.


2. Verhältnis von Vorstand und einfachem Mitglied

Gerade zu Beginn der Krise, als die Gefährlichkeit von Covid-19 noch schlechter einzuschätzen war und noch kein bundesweites Moscheeverbot vorlag, kam es in einigen Gemeinden zu Reibereien zwischen Vorstandsmitgliedern und den einfachen Mitgliedern. Grund dafür waren die unterschiedlichen Positionen in Bezug auf die Öffnung beziehungsweise Schließung der Gemeinden. Während die einen auf eine Schließung drängten, wollten die anderen die Öffnung beibehalten.

Dabei wurden im Zuge der Diskussionen von beiden Seiten Fehler begangen. Fehler, die schon in der Vergangenheit viel Schaden angerichtet haben. Auf Seiten des Vorstandes war es die fehlende Transparenz bei den getroffenen Entscheidungen wie auch die Überreaktion bei Kritik vonseiten des einfachen Mitglieds. Auf Seiten des einfachen Mitglieds war es das mangelnde Vertrauen in die Kompetenz des Vorstandes wie auch die fehlende Haltung, Entscheidungen – trotz Gegenmeinung – zu akzeptieren und, wenn nötig, gegen Spalter zu verteidigen.

Wir konnten in der Vergangenheit beobachten, wie die Moscheen an den Folgen dieser Probleme zerbrachen. Sie lösten sich auf, weil beide Seiten, Vorstand wie einfaches Mitglied, unfähig waren, zu erkennen, dass sie mit ihrer Halsstarrigkeit letztendlich nur dem Satan dienten. Denn erst unter Einfluss des Satans ist es möglich, dass aus einer belanglosen Meinungsverschiedenheit ein großer Streit entsteht, der am Ende so groß werden kann, dass er die lebenslange Feindschaft zur Folge hat.

An dieser Stelle müssen wir uns beim Coronavirus bedanken. Das Virus hat uns gezeigt, wie leicht Vorstand und einfaches Mitglied aneinandergeraten können und wie wichtig es ist, dass beide Seiten in Gesprächen ihre Seele zügeln und sich von der Vernunft leiten lassen. Das Virus hat uns ferner gelehrt, dass Chaos und Spaltung jede Gemeinde treffen können, solange die Einheit der Gemeinde für alle Beteiligten nicht die höchste Priorität hat.


3. Langsame Reaktionszeit

Aufgedeckt hat das Virus auch unsere langsame Reaktionszeit. Immer wieder mussten wir in den letzten Jahren und Monaten miterleben, wie die Muslime wichtige Ereignisse verschliefen. Ob zu Anschlägen auf Muslime irgendwo auf der Welt oder bei Moscheeangriffen in Deutschland: Immer kamen die Antworten und Stellungnahmen der Muslime zu spät. Dabei ist die schnelle Reaktion in Zeiten des schnellen Wandels überlebenswichtig, abgesehen davon, dass das zeitgerechte Handeln im Islam sehr bedeutend ist.

Wie bedeutend, zeigt sich an vielen islamischen Geboten, die Gott seinen Dienern auferlegt hat. Unter diesen gehört zum Beispiel das zu verrichtende Ritualgebet, das jeder von uns täglich innerhalb von ganz bestimmten Zeiträumen zu verrichten hat. Wer sein Gebet nicht innerhalb der dafür vorgesehenen Zeitspanne verrichtet, hat es verpasst und muss es nachholen. Dabei ist es islamisch stark empfohlen, jedes der fünf Gebete direkt nach Anbruch seiner jeweiligen Zeit zu verrichten. Je näher das verrichtete Gebet am Anbruch der dafür vorgesehenen Zeit ist, desto größer ist der göttliche Lohn.

Neben dem Gebet soll uns auch das rituelle Fasten im heiligen Monat Ramadan für ein zeitgerechtes Handeln sensibilisieren. Schließlich hat für uns die Zeit in keinem anderen Monat eine so tragende Bedeutung wie in diesem. So wird auch heute wieder ein jeder von uns darauf achten, vor dem Anbruch des Fastenbrechens am Essenstisch zu sitzen, um ja pünktlich mit dem Essen zu starten. Später, beim Suhur, achten wir darauf, die Essenszeit bloß nicht zu überziehen, indem wir auf die Minute genau mit dem Suhur aufhören.

Hinter dieser starken Verknüpfung der Zeit mit den uns auferlegten Geboten steckt die Weisheit, den Menschen zum rechtzeitigen und pünktlichen Handeln zu erziehen. Wir Muslime sollen lernen, Handlungen in den dafür vorgesehenen Zeiten durchzuführen. Leider ist davon in der muslimischen Community noch nicht viel zu sehen. Stattdessen mussten wir auch im Kontext von Corona wieder mitansehen, wie Vereine und Verbände sich wochenlang Zeit ließen, bis sie aus dem Corona-Schlaf erwachten und auf die Moschee-Schließungen reagierten.

Grundsätzlich ist der Muslim immer dazu verpflichtet, aus seiner Lage das Beste zu machen. Es wäre besser gewesen, hätten sich die Moscheen und Verbände gleich zu Beginn der Krise Gedanken dazu gemacht, wie man den Zweck der Moschee, der darin besteht, Gott in der Gemeinschaft zu gedenken, außerhalb der Moschee-Räumlichkeiten realisieren kann. Denn auch, wenn die Moschee der ideale Ort zum gemeinschaftlichen Gottesgedenken ist, so ist er nicht der einzige. Inzwischen wissen wir, dass wir mit Telefon- und Videokonferenzen gute Alternativen haben, den Zweck des gemeinschaftlichen Gottesgedenkens zu erfüllen. Ja, selbst ein gemeinschaftlicher Chat-Austausch über Gott und seinen Propheten könnte diesen Zweck auf einer niederen Ebene erfüllen.


4. Fehlende Jugendausbildung

Alternative Programmangebote erfordern freilich einen versierten Umgang mit Neuen Medien. Es steht außer Frage, dass der Umgang mit Neuen Medien zu den Pflichtaufgaben der Jugend gehört. Denn viele der älteren Geschwister sind heute nicht in der Lage, Neue Medien zu bedienen. Sie sind in einer Zeit aufgewachsen, in der die Moscheen kaum damit konfrontiert waren. Entsprechend fehlt ihnen auch die Motivation, sich mit digitalen Medien auseinanderzusetzen. Anders bei der Jugend: Sie ist mit Internet, YouTube und Smartphone gut vertraut. Da sie um das Potential hinter den Neuen Medien weiß, ist sie eher bereit, sie zur Optimierung der Moscheearbeit einzusetzen. Es braucht vonseiten der Älteren also nicht viel Überzeugungsarbeit, um die Jugend zum digitalen Gebrauch zu motivieren. Die Begeisterung ist bereits vorhanden, sie bedarf nur der weisen Steuerung.

Größere Probleme haben freilich die Moscheen, die es jahrelang versäumt haben, Jugendarbeit zu betreiben. Sie stehen heute ohne eine aktiv-religiöse Jugend da. Die letzten Wochen haben gezeigt, welche Moschee in den vergangenen Jahren in Jugendarbeit investiert hat und welche es versäumt hat, ihre Jugend islamisch angemessen auszubilden. Denn viele der Jugendlichen von gestern sitzen heute in den Vorständen der Moscheegemeinden und bemühen sich in Zeiten von Corona um die Etablierung von virtuellen Angeboten. Dagegen sind die Moscheen, die sich in den letzten Jahrzehnten mehr um ihre Kulturfeste als um die Ausbildung ihrer Jugend gekümmert haben, heute, in Zeiten von Corona, wie deaktiviert. Weil ihnen die Jugend fehlt, fehlt ihnen in diesen Tagen auch die Kompetenz, die nötig wäre, um virtuelle Angebote ins Leben zu rufen.

Viele unserer Vereine müssen deshalb, noch bevor sie über den Einsatz von digitalen Medien nachdenken, anfangen, islamische Jugendarbeit zu betreiben. Dazu ist es notwendig, dass unsere Vorsitzenden und Verantwortungsträger endlich die deutsche Sprache erlernen. Wie könnten wir auch unsere Jugend ausbilden wollen, wenn wir ihre Sprache nicht verstehen? Wie sollen wir eine feste Beziehung zu ihnen aufbauen, wenn wir die einzige Sprache, in der sie ihre Gedanken und Gefühle zum Ausdruck bringen können, nicht gut beherrschen? Wer die Herzen der Jugend gewinnen möchte, muss sie kennenlernen. Dafür muss er mit ihnen sprechen. Er muss ihre Probleme verstehen und ihnen Lösungen anbieten können. Er muss sie auf ihrem individuellen Weg zu Gott begleiten. Bis der Islam im Bewusstsein des Jugendlichen Platz gefunden hat, kann es dauern. Wer nicht bereit ist, sich diese Zeit zu nehmen, wird keinen Erfolg haben. Erfolglosigkeit in der Jugendarbeit aber bedeutet am Ende den Tod für jede Moscheegemeinde.


5. Die Inkompetenz der Dachverbände

Ich hatte bereits darüber gesprochen, dass wir Muslime zu Beginn von Corona zu langsam reagiert haben. Das gilt umso mehr für manche unserer Dachverbände, die vieles in den letzten Wochen verschlafen haben. So hätten unsere Dachverbände schon zu Beginn der Schließung der Moscheen bei den Gemeinden erfragen müssen, wer welche Unterstützung benötigt. Sie hätten den Kontakt zu allen Gemeinden aufnehmen und den nach Hilfe Suchenden unterstützende Lösungskonzepte anbieten müssen. Dabei geht es nicht nur um eine finanzielle Unterstützung. Auch ein ideeller Beistand von Seiten des Dachverbands hätte vielen Gemeinden in diesen Tagen gutgetan.

Was hätte ein Dachverband tun können? Denkbar wären zum Beispiel Online-Schulungen für einzelne Vereine in Bezug auf die Nutzung von digitalen Medien gewesen. So hätte man verhindert, dass in Zeiten von Corona die Moscheeaktivitäten vollends zum Erliegen kommen. Man hätte auch ein Netzwerk ins Leben rufen können, indem sich mehrere Vereinsvertreter in fruchtbaren Gesprächen austauschen und gegenseitig unterstützen. So hätten kleinere Vereine wichtige Ratschläge von den erfahreneren Moscheevereinen erhalten können. Bezogen auf den finanziellen Aspekt könnte ein Dachverband zum Beispiel den Kontakt zu finanziell stärkeren Moscheen aufnehmen und sie im Namen der Einheit zur Unterstützung der schwächeren auffordern.

All dies sind Beispiele, wie ein Dachverband Aufgaben im Interesse der Vereine hätte übernehmen können. Was davon wurde getan? Ich kann von den Gemeinden, die ich besser kenne, sagen, dass sie nicht den Hauch von Hilfe vonseiten ihres Dachverbands erfahren haben. Die Gemeinden mussten sich stattdessen selbst helfen.
Zu kritisieren ist auch die aktuelle Rolle einiger Dachverbände in Bezug auf die Wiederöffnung der Moscheen. Gleich mehrere Dachverbands-Vertreter haben die Schließung der Moscheen gegenüber dem Staat begrüßt und gegen eine jetzige Wiederöffnung argumentiert. Dabei wurden viele Gemeinden, in deren Interesse die Dachverbände doch handeln müssten, gar nicht zu ihrer Meinung gefragt. Man ist kurzerhand davon ausgegangen, dass alle Moscheen gegen eine Wiederöffnung ihrer Räumlichkeiten seien.

Dabei gibt es genug Gemeinden, die eine Wiederöffnung ihrer Räumlichkeiten begrüßt hätten. Bis heute warten sie darauf, ihre Räume wieder öffnen zu dürfen. Nicht dass sie keine Verantwortung für die Sicherheit der Moscheeteilnehmer verspüren; nur kommen sie in der Beurteilung der Gefährlichkeit für die Moscheebesucher zu einem anderen Ergebnis als manch ein Dachverbandsvertreter. Hinzu kommt bei vielen Gläubigen die Sehnsucht nach den Gotteshäusern in heiligsten aller Monate, die bei vielen Gottliebenden größer ist als die Angst vor einem Virus. Das scheint den Vertretern einiger Dachverbände wohl nicht in den Sinn gekommen zu sein, sonst hätten sie für eine sofortige Wiederöffnung plädieren müssen. Es wäre nur gerecht gewesen, wenn die Dachverbandsvertreter die Wiederöffnung der Moscheen bei der Bundesregierung eingefordert hätten, so wie es die jüdischen und christlichen Vertreter auch getan haben. So könnte jede Moschee für sich selbst entscheiden, ob sie ihre Räume für ihre Mitglieder zur Verfügung stellen möchte oder nicht.

Bisweilen hat man das Gefühl, dass einige Muslime glauben, eine Wiederöffnung würde sie dazu zwingen, die Moschee aufzusuchen. Das ist nicht der Fall! Wer meint, das Virus sei für ihn gefährlich, hat auch nach der Wiederöffnung weiterhin die Freiheit, der Moschee fernzubleiben. Aber solange die Moscheen gesetzlich geschlossen bleiben, sind wir alle, die Befürworter wie die Kritiker, verpflichtet, den Gotteshäusern fernzubleiben. Das eben ist ein Problem, das einige Dachverbandsvertreter wohl nicht verstanden haben.

Sollten die Gotteshäuser in den nächsten Tagen wieder öffnen, haben wir das einzig und allein dem Druck der christlichen und jüdischen Verbände zu verdanken. Ihre Vertreter haben im Gegensatz zu unseren erkannt, dass die aktuelle Lage es nicht im Ansatz rechtfertigt, die Religionsfreiheit dermaßen zu beschneiden. Sie rechtfertigt es nicht, ein so hohes und bedeutendes Grundrecht kurzerhand so stark einzuschränken, wie es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr getan wurde. Dass einige muslimische Dachverbände sich trotzdem für eine Schließung aussprechen, ist ein fataler Fehler.

Solche Fehler sind es, die dazu beigetragen haben, dass sich innerhalb der muslimischen Community inzwischen erste Graswurzelbewegungen gebildet haben, die ohne die Mitwirkung des Dachverbandes gemeinschaftliche Projekte initiieren. Jene Bewegungen haben es sich zum Ziel erklärt, das Bedürfnis nach Austausch innerhalb der Basis aufzufangen und dem Ruf nach Kooperation in die Tat umzusetzen.


6. Fehlen eines kritischen Bewusstseins

Eine Schwäche, die mit dem Beginn von Corona sichtbar wurde, ist das Fehlen eines reflektierten Bewusstseins beim Konsumieren von Nachrichten. Für gewöhnlich sind die Muslime wachsam und kritisch, wenn es um die Berichterstattung über den Islam geht. Auch, wenn mal wieder über die Situation in den islamischen Ländern gesprochen wird, sind die Muslime in Bezug auf den Wahrheitsgehalt jener Meldungen vorsichtig.

Jahrzehntelange Hetze gegen den Islam haben den Muslimen gezeigt, dass es der deutschen Presse nicht etwa darum geht, immer und unbedingt die Wahrheit zu sprechen. Vielmehr richten sie die Medien nach den Interessen ihrer Inhaber, die ausschließlich daran interessiert sind, ihren Profit zu erhöhen und ihre Macht wie auch ihren Einfluss auszubreiten. Inzwischen wissen die Medien, dass ein einfacher Weg, die Quoten und Auflagen zu erhöhen, darin besteht, einen Feind zu schaffen. Wenn es mal nicht der Iran oder Russland ist, ist es eine Krankheit oder eben auch ein Virus, vor dem wir uns fürchten müssen.

Die Medien haben es geschafft, selbst viele sonst so wachsame Muslime solche Angst einzuflößen, dass sie freiwillig bereit waren, ihrer Grundrechte einzuschränken. Es war bedauernswert, mitansehen zu müssen, wie leichtfertig die Muslime die Nachrichten der letzten Wochen zum Coronavirus kritiklos aufgenommen haben, obwohl doch viele der uns servierten Informationen bis heute Fragen aufwerfen.[3] Das Virus hat uns gezeigt, dass ein Großteil der Muslime immer noch den blinden Gehorsam der aktiven Informationsprüfung vorziehen.

Die Gründe für dieses Verhalten sind sicherlich zahlreich. Einer davon hängt mit der Arbeit in unseren Moscheegemeinden zusammen und der Art, wie Muslime in unseren Moscheen unterrichtet werden. Denn viel zu selten werden die Jugendlichen in unseren Moscheen dazu motiviert, selbständig zu denken. Zu selten werden sie dazu angeregt, Aussagen zu reflektieren und eigene Meinungen zu entwickeln.
Diese falsche Art des Unterrichts wirkt auch in den heiligen Monat Ramadan hinein. Wie viele Muslime lesen den Koran in diesen Tagen, ohne auch nur ein Wort zu verstehen? Sie rattern die Seiten des Korans marathonartig herunter, ohne koranische Erkenntnisse zu gewinnen. Diese Angewohnheit bringen sie häufig mit aus der Moschee, in der den Mitgliedern der Zugang zum Verständnis der göttlichen Worte nicht etwa geöffnet, sondern verwehrt wird. Noch weniger bemüht man sich darum, die Verse auf das eigene Leben anzuwenden.

Wenn Herz und Verstand beim Lesen des Korans nicht anwesend sind, bleibt die erhoffte Wirkung aus. Das gilt bei jedem Buch, umso mehr aber bei dem Buch Gottes. Wir müssen unseren Kindern und Jugendlichen in unseren Moscheen lehren, wachsam und reflektiert an Texte heranzugehen, ganz gleich, ob es sich um einen religiösen Text handelt, oder um einen nichtreligiösen. Nur so werden sie zu selbstbewussten Persönlichkeiten heranreifen, die von den göttlichen Worten inspiriert und erleuchtet werden.


Die positiven Seiten und eine Hoffnung

Auch wenn die Coronakrise große Mängel unserer Moscheen offenbart hat, sind doch viele Gemeinden in den letzten Tagen über sich selbst hinausgewachsen. Ich kann über viele schiitische Gemeinden berichten, die gleich nach Beginn der Krise all ihre Programme virtuell zur Verfügung gestellt haben. Andere Moscheen haben Projekte ins Leben gerufen, die eine Vernetzung und einen Austausch in Zeiten der Quarantäne anregen sollen. Viele deutschsprachige Gelehrte sind ihrer Pflicht nachgekommen und haben die Mitglieder ihrer Gemeinden in den letzten Tagen und Wochen mit spirituellen Vorträgen versorgt. Davon konnten dank des virtuellen Angebots auch Wissensdurstige aus anderen Gemeinden profitieren.
Die Coronakrise hat uns gezeigt, wie viele vorbildliche Gelehrte wir haben, von denen wir nichts wussten. Sie hat damit auch das Potential aufgedeckt, das in der muslimischen und speziell in der schiitischen Community schlummert.

 

offenkundiges.de

captcha