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Ein Marsch zur Freiheit

21:40 - November 08, 2019
Nachrichten-ID: 3001883
Ein Grab, das etwas Abseits liegt, eröffnet ein Fenster aus dem Gefängnis des „Ich“. Ein Beitrag von Yavuz Özoguz

Ein Beitrag von Yavuz Özoguz

Über 80 km bin ich bereits marschiert zusammen mit meinen lieben Glaubensgeschwistern. Voller Dankbarkeit tragen wir „unsere“ Flagge, die Deutschlandflagge mit „Imam Chamenei“. Unser Motto war und ist: „Mit al-Husaini zu Imam Husain (a.)“. Al-Husaini ist einer der Beinamen Imam Chameneis, da er direkt von Imam Zain-ul-Abidin (a.), dem überlebenden Sohn Imam Husains (a.) abstammt. Über 80 beschwerliche km mit Rucksack auf dem Rücken und Flaggen in der Hand oder um den Körper gewickelt sind wir in drei Tagen marschiert. Gott sei Dank, sind wir alle gesund und erschöpft angekommen. Dann haben wir uns den zwei himmlischen Schreinen genähert, erst der Heilige Abbas (a.) und dann Imam Husain (a.). Das Licht ihrer Kuppeln scheint den Weg zwischen ihnen, das Bayn-ul-Haramayn, zu erleuchten; ein Licht, das von Kuppel zu Kuppel hin und her strahlt, Licht über Licht. Wir haben uns in der Nacht auch in die Nähe ihrer Gräber getraut und einige haben es geschafft, das Gitter der Schreine, den sogenannten Zarih zu berühren. Fast alle großen Gefährten der epochalen Schlacht von Kerbela liegen hier, aber eben nur fast alle. Einer liegt etwas abseits.

Keine 15 km entfernt gibt es einen kleinen Schrein mit einem der großen Helden. Es ist der Schrein von al-Hur (der Freie).



 

Er heißt wirklich so, und als er Märtyrer geworden ist, kam Imam Husain (a.) zu ihm und sagte zu ihm sinngemäß: „Deine Mutter hat Dir den richtigen Namen gegeben, Du warst in dieser Welt frei und wirst es auch im Jenseits sein.“ Er war ursprünglich ein Berufsoffizier der Armee Yazids, der Armee des damaligen verbrecherischen Imperiums. Mit dreißigtausen Soldaten stand er gegen eine kleine Truppe von aufrichtigen Menschen. Jene Aufrichtigen und Wahrhaftigen waren gerade einmal 100 oder etwas mehr, Frauen, Kinder, Greise, sogar Babys waren dabei. Wirkliche Soldaten waren eine Handvoll. Dreißigtausend gegen eine Handvoll, wie soll das ausgehen? Und al-Hur stand zunächst auf der Seite derjenigen, die ihre Menschlichkeit verloren hatten. Doch ein Licht im Herzen von al-Hur ließ ihn nicht ruhen. Sollte er jetzt auf der Seite der Dreißigtausend „siegen“ und damit sein ewiges Leben verlieren, oder sollte er jetzt sein eigenes Leben opfern und damit sein ewiges Leben gewinnen? Nur wenige Menschen damals wie heute hätten in dieser Situation die Seiten gewechselt. Al-Hur, der wahre Freie, tat es und gehörte zu den ersten Märtyrern. Doch warum liegt er nicht an der Seite seines Imams?

Nach der Schlacht kamen die Familienangehörigen al-Hurs aus einem damals benachbarten Dorf, ca. 15 km entfernt und nahmen den Leichnam mit. Sie wollten nicht, dass ihr Familienangehöriger an der Seite des „Revolutionärs“ begraben wird. Sie schämten sich einen Sohn zu haben, der die Seiten gewechselt hat. Sie nahmen den Leichnam mit und begruben ihn im Stillen im eigenen Dorf. Wie viele sich für die Freiheit aufopfernde Menschen werden von ihren Familien allein gelassen? Doch die geschichtliche Entwicklung hatte etwas anderes vor. Heute gibt es einen Schrein über dem Grab von al-Hur. Jenes Dorf ist inzwischen ein Teil von Kerbela und Hunderttausende Pilgern zu jenem al-Hur. Wahre Freiheit ist nicht an einen Ort oder an eine Zeit gebunden. Wahre Freiheit trägt man im Herzen!

Und so lehne ich am Zarih, an dem Gitter dieses Heiligen. Hier ist es einfacher an das Gitter zu kommen.



 

Merkwürdige Gedanken schießen mir durch den Kopf. Das Gitter wirkt wie ein Gefängnis. Klammere ich mich gerade an das Gefängnisfenster, um dem Insassen im Gefängnis meine Ehrerbietung zu erweisen? Bin ich der Freie und er der Gefangene in seinem Grab? Oder ist es möglicherweise ganz anders. Bin ich im Gefängnis und schaue aus meiner Gefängniszelle in die Freiheit? Ist nicht diese Welt ein Spiegel meines „Ichs“, eines „Ichs“, dass mich gefangen hält. Und ist nicht die Überwindung des „Ich“ die wahre Freiheit. Haben nicht unzählige Mystiker die Geschichte vom „Du“ geschrieben? Sucht nicht der liebeswahnsinnige Madschnun seine Laila? Ist nicht die Liebesverschmelzung der Ehe ein Lichtstrahl zum wahren „Du“? Stehe ich vor dem Gitter und liegt al-Hur im Gefängnis oder liege ich im Gefängnis und steht der lebendige al-Hur hinter dem Gitter als wahrer freier Mensch und winkt mir zu? Sind nicht alle Zarihs, alle Gitter zu den Heiligen, unsere Gefängnisfenster in die Freiheit?

Auch dieses Jahr durfte ich die 80 km zu Fuß pilgern zum Tor der Freiheit. Es ist keine Freiheit allein für meine Wenigkeit, sondern für die gesamte Menschheit. Wenn mein Schöpfer es mir erlaubt, will ich es nächstes Jahr wieder versuchen – inschaallah!

 

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