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Blick auf politischen Islam in Tunesien

10:59 - February 07, 2025
Nachrichten-ID: 3012143
IQNA- Während der zehnjährigen Herrschaft der Muslimbruderschaft in Tunesien kam es zu zahlreichen Ineffizienzen und die Menschen wurden Zeugen eines Anstiegs der Korruption in Verwaltung und Regierung, einer hohen Inflation und zunehmender Frustration über Führungsfähigkeiten der Bruderschaft in Tunesien.

IQNA: Hadi Ajili, iranischer Kulturberater in Tunesien, befasste sich in einem Bericht mit der Frage des politischen Islam in Tunesien, insbesondere mit der Ennahda-Partei und ihrem Vorstand Rachid Ghannouchi sowie insbesondere mit der Muslimbruderschaft in Tunesien. Er schrieb: 

Nachdem die Aufstände im Nahen Osten in Tunesien begannen, gelangte die Bewegung der Muslimbrüder in den von diesen Aufständen betroffenen Ländern vor allem durch Wahlen oder Regierungswechsel an die Macht. Von Ägypten mit Mohammed Mursi und Tunesien mit Rachid Ghannouchi über die starken Oppositionsbewegungen gegen Baschar al-Assad in Syrien unter Führung der Muslimbruderschaft und den Aufstieg der Muslimbruderschaft unter Erdogan in der Türkei bis hin zu Palästina und der Muslimbruderschaft Hamas – es bildete sich eine Front der Bruderschaft, die zu Ereignissen führte, die angesichts des Verständnisses der Islamischen Republik von dieser Bewegung und ihrer früheren Verbindungen zu ihr überraschend waren.

Dazu gehörten die Reaktionen und Beleidigungen Mohammed Mursis während seiner mehrstündigen Reise in den Iran zur Konferenz der Blockfreien Staaten und die anschließende Verwendung der Formulierung „mein lieber Freund Schimon Peres“ in einem an ihn gerichteten Brief, was man von der Führung der Bruderschaft keineswegs erwartet hatte. Auch Rashid Ghannouchi erklärte am Flughafen nach seiner Rückkehr aus London nach Tunesien: Tunesien ist nicht der Iran und ich bin nicht Khomeini.

Und tatsächlich verkündete man von Anfang an seine Trennung vom Iran. 

Die Beziehungen aller Zweige der Muslimbruderschaft und ihres Führungsrates zum Iran waren zum Zeitpunkt ihrer Machtübernahme nicht akzeptabel. Sie bewiesen, dass diese Bewegung als älteste und tiefgreifendste islamistische Bewegung andere Praktiken und Vorstellungen hat wenn es um Regierung und Macht geht, insbesondere im sunnitischen Rahmen. Weil man von einer islamistischen Bewegung erwartete, dass sie das islamische Recht, islamische Einheit und Einheitsfront für die islamische Welt stärken und festigen würde. Und nicht, um wie Mursi gegen Syrien die Stirn zu bieten. Er war sogar bereit die ägyptische Armee, die sich nie dem zionistischen Regime entgegengestellte gegen Bashar al-Assad aufzubringen.

In Tunesien verfolgten die Muslimbrüder und Ghannouchi ein Projekt namens „Tasfir“ – was „Reisen“ bedeutet. Sie versuchten, die Voraussetzungen und die Atmosphäre zu schaffen, die Jugend aufzuwiegeln und sie auf Kosten der Regierung freiwillig nach Syrien zu schicken, damit sie an der Seite terroristischer Gruppen gegen Bashar al-Assad und den Iran kämpfen. Tatsächlich wurden von der Muslimbruderschaft, die in Tunesien herrschte, Terroristen nach Syrien geschickt. Was wir von dieser Bewegung sahen als sie an der Macht war und die Regierung führte war von Machtstreben und Pragmatismus geprägt und hatte nichts mit dem zu tun was als Glaubensgrundsatz der Bruderschaft galt oder gar was man von einer islamistischen Bewegung erwartete.

Insbesondere während der Herrschaft der Muslimbruderschaft in Tunesien war die Ennahda-Bewegung früher als „Bewegung des Islamischen Trends“ bekannt. Diese Bewegung entstand gegen Ende der Bourguiba-Ära. Zu Beginn der tunesischen Unabhängigkeit unterhielt die „Jama'at al-Zaytouna“ bzw. Universität von al-Zaytouna als Zentrum und Ursprung der islamischen Bewegung in Tunesien gute Beziehungen zu Bourguiba. Doch mit seiner säkularen, antireligiösen und westlichen Haltung distanzierte er sich allmählich von ihm und stellte sich gegen ihn. Bourguiba wiederum marginalisierte und verharmloste religiöse Bewegungen, insbesondere diese Universität, soweit es ihm möglich war. Bourguiba versuchte die tunesische Gesellschaft nichtreligiös, säkular und westlich zu gestalten. Er ließ einen Teil der Bevölkerung von Al-Zaytunah ins Exil schicken, andere einsperren und gar verurteilen. 

 

Blick auf politischen Islam in Tunesien

 

Zu Beginn von Ben Alis Putsch gegen Bourguiba im Jahr 1987 – der nicht als blutiger Putsch angesehen wurde – standen die islamistische Bewegung und die Bruderschaft auf der Seite Ben Alis. Auch Ben Ali überließ ihnen zunächst das Feld, weil er ihre Hilfe brauchte. Doch mit der Zeit gelangte diese Bewegung an die Macht und gab viele politische Grundsätze auf und viele ihrer Mitglieder radikalisierten sich. 

Die Muslimbruderschaft hat in Tunesien und auch in anderen Ländern viele Extremisten, was die Regierungen daran hindert ihnen den Freiraum zu geben zu tun was sie wollen. Nach einiger Zeit folgte Ben Ali dem Weg Bourguibas und begann die Bevölkerung von Zaitouna auszurotten. Er ließ sie inhaftieren und ins Exil schicken – ebenso wie Rachid Ghannouchi de facto nach England verbannt wurde – und schloss die Büros von Ennahda.

Nach der tunesischen Revolution und dem Sturz Ben Alis hielt die von Rachid Ghannouchi angeführte Ennahda-Bewegung fast ein ganzes Jahrzehnt lang – von 2011 bis 2021 – die Macht. Das Präsidentenamt, das Amt des Premierministers, die Minister und das Parlament lagen in den Händen dieser Bewegung. Die Menschen waren sich dieser Bewegung bewusst, sahen in ihr die Lösung ihrer Probleme und stimmten bereitwillig für sie. Natürlich war Ennahda auch parteipolitisch die stärkste Partei Tunesiens.

Während des Jahrzehnts der Herrschaft der Muslimbruderschaft in Tunesien kam es zu zahlreichen Ineffizienzen und die tunesische Bevölkerung wurde Zeugin einer Zunahme der Korruption, auch in der Verwaltung und der Regierung. Es herrschte eine hohe Inflation und die Mittelschicht, die während Ben Alis Ära einen erheblichen Teil der Bevölkerung ausmachte und deren relativen Wohlstand repräsentierte, schwand. Dies führte zu einer deutlichen Vergrößerung der Klassenunterschiede und des Gini-Koeffizienten sowie zu einer Ernüchterung hinsichtlich der Führungsfähigkeiten der Bruderschaft in Tunesien. 

In dieses Jahrzehnt fielen auch politische Ereignisse, wie etwa die Frage der „Ausbürgerung“, also der Verschleppung tunesischer Jugendlicher als Terroristen (in ihrem Sprachgebrauch „Mudschaheddin“) nach Syrien und die Probleme die ihre Rückkehr mit sich bringen würde. Oder religiöser Extremismus, der neben wirtschaftlicher Ineffizienz auftrat und dieser Extremismus betraf eine Gesellschaft, die als verwestlichteste und säkularste der arabischen Gesellschaften gilt. Diese Gesellschaft ist, wie man sich manchmal vorstellt, nicht muslimisch und steht dem Westen näher als dem Islam. Der religiöse Extremismus in dieser Gesellschaft, die wirtschaftliche Ineffizienz und die Klassenunterschiede sowie der Fall Tasfirah führten dazu, dass die tunesische Bevölkerung eine Abneigung gegen islamistische Bewegungen entwickelte und deren Beseitigung forderte.

Die Ermordung zweier politischer Führungspersönlichkeiten, die Ennahda feindlich gesinnt waren, Chokri Belaid und Mohamed Brahimi, beschleunigte diesen Ekel und führte zum Rückzug der Ennahda-Bewegung. Zugleich wurde in tunesischen Medien die Möglichkeit einer Beteiligung Ennahdas an den Attentaten thematisiert, zumal der von Ennahda abgespaltene Zweig „Al-Karama“ salafistische Tendenzen aufwies. Die Herrschaft der Muslimbruderschaft war für die tunesischen Schiiten, die großem Druck ausgesetzt waren, eine äußerst schwierige Zeit, da sie Zweigen mit salafistischen Tendenzen Vorrang einräumte. Eine der politisch und kulturell schwierigsten Perioden der Präsenz der Islamischen Republik in Tunesien war die Zeit der Herrschaft der Muslimbruderschaft. Natürlich erwartete man, dass eine islamistische Regierung ein besseres Verhältnis zur Islamischen Republik haben würde als säkulare Regierungen. Doch das Gegenteil geschah und es brachen schwierige Zeiten für den Iran und die Schiiten an. Der Stolz und die Arroganz der Führer der Ennahda und ihre Idee in der von der Bruderschaft genannten Region einen Machtpol zu errichten führten sie dazu dass sie gegenüber dem Iran und den Schiiten eine herablassende Haltung und eine sehr harte Haltung einnahmen. 

Während dieser Zeit baute die Bewegung sehr gute Beziehungen zu USA auf. Es ist überraschend, dass die Ennahda-Bewegung ihre politischen Beziehungen eher zu USA und dem Westen als zu islamischen Ländern unterhielt.

Für uns ist es daher ein Beweis, dass die Muslimbruderschaft Verbündete und Unterstützer suchen wird solange sie nicht an der Macht ist. Und die Natur der Islamischen Republik, die islamistische Bewegungen unterstützt, macht sie zu einem guten Verbündeten für diese. Doch sobald sie an die Macht kommen werden sie pragmatisch und eigennützig und vergessen woran sie vor der Machtübernahme glaubten. 

Von 2020 bis 2021 war Qais Saeed an der Macht, der eine ernsthafte Beziehung zur Ennahda-Bewegung hatte. Er verstand die drei Hauptbedürfnisse der Menschen und verließ sich seither auf diese drei Bedürfnisse, was ihn so beliebt machte. Die wichtigste Forderung des Volkes war Kampf gegen die Korruption. Dies war von Anfang an Qais Saeeds Slogan und er setzte ihn beinahe in die Tat um. Er ließ viele Menschen verhaften und ging hart gegen Korruption vor. Er verhaftete sogar bedeutende Wirtschaftsführer und große Hersteller, die sogar über internationale Niederlassungen verfügten und sein Mut dabei war bewundernswert.

 

Blick auf politischen Islam in Tunesien

 

Die zweite Forderung des Volkes war die Palästinafrage, die es stark befürwortete. Von Anfang an sprach sich Qais Saeed auch für die „Normalisierung des Hochverrats“ aus und unterstützte Palästina nachdrücklich und ernsthaft. Die dritte Forderung des Volkes bestand darin der Ennahda-Bewegung entgegenzutreten. Dies war einer der Gründe für seine Popularität und Auswahl. Trotz der zunehmenden wirtschaftlichen Ineffizienz in der Regierung von Qais Saeed blieb dieser an der Macht. Einer der Gründe dafür ist seine Konfrontation mit der Muslimbruderschaft.

Die Menschen haben die Nase so voll von der Ära der Muslimbruderschaft, dass sie jeden unterstützen, der sich ihnen entgegenstellt und ihnen entgegentritt, selbst wenn diese das Land nicht gut regieren und Inflation herrscht. In den letzten zwei Jahren wurden zahlreiche Anführer der Ennahda verhaftet, ins Exil geschickt und verurteilt. Trotz seines hohen Alters wurde Rachid Ghannouchi wiederholt vor Gericht geladen und stand monatelang unter Hausarrest und Überwachung, bis er vor einigen Monaten festgenommen und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde und ist derzeit in Gewahrsam. Während dieser Zeit setzte sich keine einzige Person vor die Gefängnistür oder versammelte sich dort um die Freilassung des Anführers der Ennahda-Bewegung zu fordern. Die Verhaftung des Anführers dieser Bewegung und des früheren Parlamentssprechers stellte für die tunesische Bevölkerung kein Problem dar! Interessant ist jedoch, dass es neben Katar und der Türkei, die von der Muslimbruderschaft regiert werden, die USA und Großbritannien waren, die gegen diese Verhaftung protestierten und ihre Besorgnis zum Ausdruck brachten.

Auf der anderen Seite sind viele tunesische Eliten, die Mitglieder des Widerstands und Unterstützer Palästinas sind, gute Beziehungen zur Islamischen Republik pflegen und unsere Freunde sind, von Ennahda und der Muslimbruderschaft so angewidert, dass sie einen Ausschlag bekommen, wenn sie bloß ihre Namen hören! Das heißt, ungeachtet ihres intellektuellen Ekels hassen sie diesen Trend emotional. Es gibt Menschen, die die islamistische Bewegung in Tunesien hassen, in ihrem Privatleben jedoch selbst religiöse Menschen sind. Sie sind weder säkular noch laizistisch! Vielmehr unterscheiden sie völlig zwischen dem Islam und dem von der Bruderschaft vertretenen politischen Islam. Trotz ihrer Abneigung gegenüber der islamistischen Ennahda-Bewegung gaben die Tunesier den Islam nicht auf. Sie sind nicht vom Islam angewidert, sondern hassen den politischen Islam aufgrund der Aktionen von Ennahda! Sowohl Widerstandsbewegungen, befreundete und unterstützende Bewegungen der Islamischen Republik als auch schiitische Bewegungen in Tunesien richten sich gegen die islamistische Bewegung und die Ennahda-Bruderschaft. 

Wir dachten, dass wir aufgrund des islamistischen Titels und der Namensähnlichkeit viel gemeinsam hätten und zusammenarbeiten könnten. Doch die Erfahrungen mit der Herrschaft der Bruderschaft in Tunesien bewiesen das Gegenteil. Es ist der Beweis dafür, dass sich die Dinge für uns nicht verbessern solange sie an der Macht sind, sondern möglicherweise sogar verschlechtern. Natürlich sollte sich die Islamische Republik den islamistischen Bewegungen näher fühlen! Denn auch sie gilt als islamistische Bewegung. Als die ethno-arabischen, frankophonen, säkularen und liberalen Bewegungen in Tunesien erkennen, dass sie auf der Seite der Islamischen Republik Iran stehen, distanzieren sie sich von dieser und beenden die Verhandlungen. Sie haben ein grundsätzliches Problem mit der islamischen Natur der Regierung.

Daher ist es nur natürlich, dass sich die Islamische Republik einer Annäherung an eine islamistische Bewegung zuwendet. Zumindest haben sie mehr Respekt vor dem Islam und den islamischen Gesetzen. Zumindest wenn die Muslimbruderschaft an der Macht ist, schreckt sie nicht vor der Islamischen Republik zurück, nur weil das System islamisch ist und es kein grundsätzliches Problem gibt. Doch in der Praxis müssen wir beobachten, dass der Schaden, den die Interpretation des politischen Islam durch die Muslimbruderschaft und die Ennahda-Regierung anrichtet für uns größer ist als die Machtübernahme durch die säkularen Bewegungen.

Es ist erwähnenswert, dass wir zwischen der Führung der Bruderschaftsbewegung, einigen Persönlichkeiten der Bruderschaftsbewegung und der Atmosphäre, die diese Bewegung dominiert, unterscheiden müssen. Beispielsweise unterstützen und begleiten sie uns trotz ihrer Opposition zu unseren verschiedenen Positionen überwiegend in der Palästina- und Widerstandsfrage. Oder sie richten sich vor allem gegen die US-Dominanz. Sind oft Gegner des Wahhabismus! Die meisten sind religiös und bekennen sich zum Islam, und so weiter. Deshalb sollten wir nicht alle Mitglieder der Bruderschaft – ob in Tunesien oder anderswo – über einen Kamm scheren. 

In Tunesien sind viele unserer engen Freunde, die als wahre Freunde der Islamischen Republik gelten, Mitglieder der Muslimbruderschaft. Wir arbeiten immer noch mit Persönlichkeiten der Bruderschaft in Tunesien zusammen. Zur letzten Zeremonie am 21. Januar, die in der Botschaft der Islamischen Republik Iran stattfand, wurde Rashid Ghannouchi trotz des Wissens um seine Vergangenheit eingeladen und geehrt. Wir hielten unsere Beziehung zu dieser Bewegung weiterhin aufrecht und brachen nicht ab. Aber wir wissen was unter uns geschah als sie an der Macht waren. Über die genannten Gemeinsamkeiten hinaus gibt es Persönlichkeiten aus der Bruderschaft, die trotz der Bedingungen während der Herrschaft der Bruderschaft gegen uns immer noch eine positive Einstellung gegenüber dem Iran haben. 

Das Ziel besteht deshalb nicht darin die Muslimbrüder aus unserem Kreis auszuschließen oder die Beziehungen zu ihnen abzubrechen, sondern vielmehr darin sie besser kennenzulernen. Unter anderem glaubt man im Iran, dass Rachid Ghannouchi beliebt ist, während man ihn gleichzeitig hasst. Oder man glaubt, die Muslimbruderschaft, Ennahda und der politische Islam in Tunesien stünden uns nahe, obwohl dies keineswegs der Fall ist und die Erfahrung das Gegenteil bewies.

 

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