IQNA

Runter da! – Warum nicht jeder eine Führungsposition übernehmen sollte

10:29 - December 13, 2019
Nachrichten-ID: 3001998
Inkompetente Amtsinhaber in muslimischen Vereinen und Dachverbänden verschwenden ihr Amt und das Potenzial der Muslime. Je nach Aufgabe muss ein Amtsinhaber unterschiedliche Dinge mitbringen, aber eines benötigt er in jedem Fall: Zeit. Wer sie nicht aufbringt, sollte den Platz räumen.

Als er von dem Propheten hörte, eilte er nach Mekka. Sofort nahm er den Islam an und unterstützte den Propheten sowohl in Mekka als auch in Medina unter Einsatz seines Lebens. Ohne Zweifel gehörte er zu den treuesten Anhängern des Propheten. Für die Muslime gehörte er von Anfang an zu den vertrauenswürdigen Überlieferern seiner Aussagen. Besondere Auszeichnung erhielt er durch seine Treue zu Imam Ali, für die er so manche Demütigung erdulden musste. Abuzhar erkannte nicht nur die Abweichungen vom Quran und der Sunna, die sich in der muslimischen Gesellschaft etablierten, er hatte auch den Mut, den Menschen ins Gewissen zu predigen. Ohne Rücksicht auf sein eigenes Schicksal überwarf er sich mit der herrschenden Elite, bis diese ihn schließlich in die Einsamkeit verbannte.

Von wenigen Gefährten ist bekannt, dass der Prophet ihnen ihr Schicksal eröffnete: „O Abuzhar! Du gehörst zu den Bewohnern des Paradieses! Du wirst aus Mekka verbannt werden, wegen deiner Liebe zu meinen Ahlulbayt. Du wirst in einem fremden Land leben und in Einsamkeit sterben. Eine Gruppe Iraker wird durch dich Segen bekommen, sie werden deinen Leichnam waschen, ihn ins Leichentuch einhüllen und mit mir im Paradies sein.“

War Abuzhar also eine unterschätzte Führungsperson? Sicherlich wäre er besser als so manch anderer Führer gewesen, doch er wusste, dass das nicht zu seinen Aufgaben zählte. Ein Merkmal seiner Größe ist die Tatsache, dass er nie versucht hat, jemand zu sein, der er nicht war. Er kannte seine eigenen Schwächen und überlieferte selbst, wie der Prophet ihn ermahnte, keine Führungsposition anzustreben und sogar die Finger von der Verwaltung des Vermögens eines Waisenkindes zu lassen. Der Prophet machte ihm klar, dass er nicht für das Recht eines Waisenkindes verantwortlich sein soll.

Imam Chamenei hat vor Theologiestudenten über die Äußerung des Propheten (s.) elaboriert. Die Quintessenz: Ein guter, gottergebener Mensch zu sein, befähigt noch nicht zur Führungsposition. Die Führung von Menschen bedarf vielseitiger Kompetenzen. Diesen Gedanken kann man auf die Situation der muslimischen Vereine und Gemeinden in Deutschland anwenden.

Die Vorstandswahl steht an. Ein neuer Kassenwart wird gesucht. Der Instinkt sagt: Das ist meine Chance auf Aufstieg, Führung, Anerkennung. Die Vernunft fragt: Will ich die Position wirklich ausschließlich, um dadurch dem Verein zu dienen? Wäre dem Verein nicht eher damit gedient, wenn Person X die Aufgabe übernimmt? Wie viel Nafs steckt in meinem Wunsch nach Verantwortung

Zunächst muss jeder sich selbst einschätzen können. Kann ich die Last der Verantwortung überhaupt stemmen oder benutze ich die Verantwortung als Treppenstufe, die mir beim Aufstieg hilft? Welche Kompetenzen werden für diese Aufgabe benötigt?

Im Quran steht die Geschichte, in der Talut aufgrund seines Wissens und seiner Körperkraft zum König der Kinder Israels erwählt wird (Quran 2:247). Wissen ist demnach ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium für die Führung. Die weiteren Kompetenzen, die benötigt werden, gehen aus der jeweiligen Aufgabe hervor. Hier ging es darum, als Feldherr mit einer Armee in den Krieg zu ziehen, daher der Hinweis auf die Körperkraft. Der Einwand der Eliten, dass er nicht vermögend sei, ist unlogisch, denn Reichtum ist hier kein Kriterium. Damit beantwortet der Quran nebenbei die Frage nach einem weiteren Kriterium: die Anerkennung als Autorität. Sie ist kein notwendiges Kriterium. Anders ausgedrückt: Es kann geboten sein, dass jemand Verantwortung übernimmt, von dem die Muslime zunächst glauben, er hätte nicht das Zeug dazu.

Abuzhar verfügte über mehr Wissen als viele der Gefährten des Propheten. Die Meisterleistung, die Abuzar offenbar beherrschte, ist die, den Instinkt nach Anerkennung und die Angst vor Ablehnung zu unterdrücken. Ganz so, wie es im Quran heißt: „[...] die sich auf dem Weg Gottes einsetzen und den Tadel des Tadelnden nicht fürchten.“ (5:54) – Unterdrücke den Instinkt nach Anerkennung! Mit diesem Motto könnte Facebook dichtmachen. Die sozialen Medien trainieren ihren Nutzern genau das Gegenteil an.

Die nächste Schwierigkeit besteht darin, die Kompetenzen der anderen einzuschätzen: Wer ist denn geeignet für diese Position und was befähigt ihn dazu? Das erste Kriterium ist Wissen. Wenn die einzigen Kandidaten nicht zu den wissenden Menschen gehören, sieht die Situation schon sehr düster aus. Akzeptieren wir Wissen als allgemeines, notwendiges Kriterium, können wir unsere Wahl in der Regel nicht unbedingt stark einschränken. Denn Wissen bedeutet vermutlich, dass ein Schulabbrecher nicht in Frage kommt, aber viel mehr kann man daraus nicht folgern, ohne zu konkretisieren, um welches Wissen es sich genau handelt.

Andere Kriterien scheinen sich deutlich seltener zu finden. Ein Vorstandsmitglied eines muslimischen Vereins, einer Moscheegemeinde oder eines Dachverbands muss vor allem eines: Zeit investieren. Wer im ganzen Monat keine einzige Stunde für sein Amt aufwendet, verschwendet es. Es ist an den Vereinsmitgliedern, ihm die beliebteste aller Ausreden nicht durchgehen zu lassen: Ich habe so wenig Zeit. Ja, Zeit ist kostbar. Verantwortung über die Muslime darf nur derjenige bekommen, der sich diese Zeit nimmt. Mindestens so viel wie nötig, idealerweise so viel wie möglich. Wenn nun einer tatsächlich keine Zeit hat, macht ihn das nicht zu einer schlechteren Person. Was spricht dagegen, das Amt jemandem zu überlassen, der mehr dafür geben kann? Eine Beratungsposition im Hintergrund, die weniger Zeit in Anspruch nimmt, kann doch ebenfalls dem Verein dienlich sein.

Es kann sinnvoll sein, dass die Mitglieder eines Vereins von seinem Vorstand einen Nachweis für sein Engagement verlangen. Bei überschaubaren Vereinen mag das unnötig sein, da die Mitglieder ohnehin über die Aktivitäten des Vereins und seines Vorstands im Bilde sind. Bei größeren Vereinen, etwa Dachverbänden, sieht es anders aus. In manchen Fällen kann es nicht schaden, wenn Konzepte und Ideen zum Nachweis des Engagements erarbeitet werden, die über eine Wahlkampfrhethorik kurz vor der Vorstandswahl hinausgehen. Wie wäre es mit einer Rundmail über die für den kommenden Monat geplanten Aktivitäten? Oder ist eine wöchentliche Erklärung als Sprachnachricht in der WhatsApp- oder Telegramgruppe zu viel verlangt?

Die Muslime können sich ein Vorbild an Abuzhar nehmen. Er strebte keine Position im Staat an, sondern machte es sich zur Aufgabe, die Verantwortungsträger zu kontrollieren und zu kritisieren. Auch das ist notwendig. Denn nicht die Position befähigt zum Führen, sondern das Führen mit Verantwortungsbewusstsein berechtigt zur Position.

 

https://offenkundiges.de/runter-da-warum-nicht-jeder-eine-fuhrungsposition-ubernehmen-sollte/

captcha