IQNA

Meinungsfreiheit mit Macron

18:20 - November 28, 2020
Nachrichten-ID: 3003433
Teheran (IQNA)- „Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst.“ Ein gerne zitierter Satz, weil er den Anspruch des Westens an seine Meinungsfreiheit verdeutlicht. Aber stimmt das denn?

Ein Beitrag von Sadik Özoguz

Beleidigungen gegen Religionen sind im Westen nichts Neues. Lange vor den Muslimen wurden die Christen beleidigt, z. B. mit dem Film „Das Leben des Brian“ von 1979. Die allgemeine Grundhaltung ist: „Wir machen Witze über alles und jeden. Das muss man nicht gut finden, aber man muss es aushalten können. Wir halten es ja auch aus.“ Aber stimmt das denn?

Dass eine anti-christliche und anti-islamische Gesellschaft keine Probleme damit hat, Beleidigungen gegen die Propheten Jesus (a.) und Muhammad (s.) auszuhalten, ist kein Kunststück. Doch wie sieht es mit der Meinungsfreiheit aus, wenn nicht die Schwachen, sondern die Mächtigen angegriffen werden? Wenn hier nicht zweierlei Standards gelten, darf man erwarten, dass die französischen Regierungen beleidigende Karikaturen und mehr oder weniger künstlerisch verpackte Schmähungen im Allgemeinen nicht bloß toleriert haben müssen. Sie hätten sie auch gegen jeden Widerstand verteidigt haben müssen. Auch wenn die Regierung selbst betroffen ist.

Das berühmte Magazin Charlie Hebdo, das heute hauptsächlich für die Schmähkarrikaturen über den Propheten Muhammad (s.) bekannt ist, wurde 1961 wegen der Beleidigung französischer nationaler Werte zeitweise geschlossen. Damals nannte sich das Magazin noch Harakiri Hebdo. Ein weiteres Mal wurde es 1966 für weitere sechs Monate verboten.
Im November 1970 veröffentlichte das Magazin eine Karikatur über den gerade erst verstorbenen Ex-Präsidenten und Nationalhelden Charles de Gaulle. Als Ergebnis ließ das Innenministerium die Zeitschrift verbieten. Um weiterarbeiten zu können, benannten die Herausgeber das Magazin um in Charlie Hebdo – offiziell eine Hommage an die Comicfigur Charlie Brown, denn eine weitere offene Anspielung an Charles de Gaulle trauten sie sich offenbar nicht. Es liegt nicht fern von einer Selbstzensur aus Angst vor Maßnahmen der Regierung zu sprechen. Das zeigt sich auch in jüngeren Beispielen.

Der Charlie-Hebdo-Karikaturist Maurice Sinet wurde im Januar 2009 gefeuert. Über die bevorstehende Ehe vom Sohn des damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, Jean Sarkozy, mit der Jüdin Jessica Sebaoun-Darty schrieb der Karikaturist: „Jean Sarkozy, würdiger Sohn seines Vaters und schon jetzt UMP-Bezirksparlamentarier, ist nahezu unter Applaussalven aus dem Gerichtssaal herausgekommen, wo er wegen Fahrerflucht angeklagt war. Der Staatsanwalt hat – einmal mehr! – Freispruch für ihn gefordert! Man muss dazu sagen, dass der Kläger Araber war! Das ist nicht alles: Er [Jean Sarkozy] hat soeben erklärt, dass er sich zum Judentum konvertieren möchte, bevor er seine Verlobte ehelicht, die Jüdin und Erbin des Gründers der Versandkaufhäuser Darty ist. Er wird es im Leben weit bringen, der Kleine!“[1] Das wurde ihm als antisemitisch ausgelegt. Neben dem Verlust seines Arbeitsplatzes wurde er auch noch angeklagt. Während der Anhörung im Gericht überraschte sein früherer Chef von Charlie Hebdo durch eine Erklärung, in der er behauptete, schon früher Fremdenfeindlichkeit und Rassismus bei seinem ehemaligen Karikaturisten wahrgenommen zu haben. Er wurde dennoch freigesprochen.

Auf eine interessante Zensur stößt man, wenn man der Frage nachgeht, welches die verheerendsten Attentate in Frankreich waren. Über den Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 heißt es in Wikipedia: „Bis zu den Terroranschlägen von Paris im November 2015 war der Anschlag auf die Redaktion derjenige mit der höchsten Anzahl an Todesopfern in Frankreich seit (...) Juni 1961, bei dem 28 Menschen starben und 170 verletzt wurden.“[2] Doch das stimmt nicht. Am 17. Oktober 1961 fand eine Hetzjagd gegen Algerier statt, an deren Ende mehr als hundert Leichen im Fluss trieben. In den Medien wurde das Massaker komplett verschwiegen, denn die Täter waren die französische Polizei, unterstützt von Bürgern und Aktivisten.[3] Die Opfer wurden beschuldigt, Anhänger des algerischen Widerstands gegen die französische Besatzung zu sein. In der französischen Gesellschaft gab es von ganz links bis ganz rechts einen Konsens darüber, dass Algerien in den Händen Frankreichs bleiben muss. Wer diesen Konsens hinterfragte, wurde zensiert.

Die Zeitschrift „Les Temps Modernes“ publizierte Schriften Intellektueller wie Jean-Paul Sartre, der die französische Regierung und die Gesellschaft für ihre Haltung in der Algerienfrage scharf kritisierte. Besonders scharf kritisiert wurde die Regierung für ihre Hinrichtungen und systematische Folter gegen Mitglieder des algerischen Widerstands. Francois Mitterand, später Präsident, war als Justizminister persönlich dafür verantwortlich. Einige Ausgaben der Zeitschrift wurden daraufhin zensiert und beschlagnahmt.[4] Meinungsfreiheit? Nur mit der Obrigkeit zusammen, aber nicht gegen sie.

Das kann man teilweise auch in Deutschland beobachten: 2006 wurde die Mozart-Oper „Idemeneo“ aufgeführt, in der der Regisseur Muhammad, Jesus, Buddha und Poseidon auf der Bühne köpfen ließ. Dass Moses viel besser als Poseidon in diese Reihe gepasst hätte, muss ihm klar gewesen sein. Vermutlich wäre der Regisseur aber wegen Antisemitismusvorwürfen in der Versenkung verschwunden, statt für die Verdienste für die Meinungsfreiheit geehrt zu werden. Der Zionist Henryk M. Broder vermutete damals im Spiegel, dass der Regisseur auf Moses verzichtete, weil er wusste, dass man es ihm übel genommen hätte.[5] Dem Anspruch „Satire darf alles“, werden die europäischen Gesellschaften aufgrund von Zensur oder Selbstzensur in keinster Weise gerecht. Zutreffender ist die zugespitzte Formulierung von Hassan Mohsen aus dem Januar 2015: „Was darf Satire? Nur Islamfeindlichkeit!“[6]

Der Trend ist dabei offenbar negativ. Es gibt eine Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit und es fällt schwer, das Wort Heuchelei zurückzuhalten. Erst kürzlich stellte Präsident Macron in einem Interview fest, dass er als Präsident gar nicht für oder gegen die Karikaturen sei, sondern nur das Recht auf freie Meinungsäußerung sicherstelle. Neben dem Erwarteten sagte er auch: „Wir werden immer auf der Seite der Menschenwürde und der Grundwerte stehen.“ Dass die Würde der Muslime angegriffen wird, klammerte er dabei aus. Der folgende Satz aus der gleichen Rede zeigt, wie sehr er die Kolonialgeschichte und die Geschichte der Unterdrückung von Minderheiten in Frankreich ignoriert: „Unsere Geschichte ist die des Kampfes gegen Tyrannei und Fanatismus.“

Der mauretanische Karikaturist Khaled Idris veröffentlichte eine Karikatur über Macron. Sein Vertrag mit der französischen Botschaft wurde daraufhin gekündigt. Grund: Die Karikatur kann als beleidigend empfunden werden. Zwar nicht von 1,7 Milliarden Muslimen, aber von Macron.

 

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Der französische Innenminister Gérald Darmanin möchte gar die Meinung unter Strafe stellen, dass die Karikaturen nicht im Unterricht gezeigt werden sollen. Er kündigte an einen Straftatbestand einzuführen, der in solchen Fällen die Abschiebung von ausländischen Eltern erlaubt. Dabei begründet er diesen Schritt explizit mit der Meinungsfreiheit und scheint die Ironie, dass er eine Meinung unter Strafe stellen will, gar nicht zu merken.

Frankreichs Innenminister Gerald Darmanin plant, die Abschiebung von Eltern zu ermöglichen, die sich gegen umstrittene Karikaturen im Unterricht aussprechen. pic.twitter.com/Ix43oAP4GC
— TRT Deutsch (@TRTDeutsch) November 21, 2020

Die französische Regierung ist offenbar auch in der Lage, Druck auf den Nachrichtendienst Twitter aufzubauen. Dort wurden etliche Beiträge und ganze Accounts gelöscht, die Macron kritisierten oder beleidigten.

Die Financial Times löschte einen Artikel, in dem darauf hingewiesen wurde, dass Macron gegenüber den Muslime eine Strategie der Konfrontation fährt, die Frankreich spaltet, die den Rechten in die Hände spielt und ihm bei den Wahlen von 2022 nicht helfen wird. Zuletzt hatten die Muslime überdurchschnittlich oft Macron gewählt.[7] Der Artikel wurde gelöscht mit dem Hinweis, dass er faktische Fehler enthielte. Welche genau, wurde nicht erläutert. Eine Richtigstellung kam offenbar auch nicht in Frage. Der Verdacht der Zensur drängt sich geradezu auf. [8]

Ein weiterer Artikel, der in der Wochenzeitung Politico Europe erschien, trug den Titel: „Die gefährliche französische Religion des Säkularismus“. Der Autor ist Farhad Khosrokavar, ein emeritierter Professor für Soziologie an einer renommierten Pariser Universität. Er gilt als angesehener Forscher und Experte zum Thema inländischer Terror in Frankreich. Im Artikel ging er der Frage nach, warum Frankreich von extremistischen Anschlägen schwerer betroffen ist als England, Deutschland, Italien und Dänemark. Die Fragestellung, obwohl rein akademisch beantwortet, scheint schon eine Blasphemie darzustellen.

Seine These: Es hängt mit der extremen Form des Säkularismus zusammen. Der Artikel wurde nach zwei Tagen zurückgezogen, weil er nicht den redaktionellen Standards entspräche. Sein Kollege Tom Theuns meint dazu: „Obwohl ich, wie ich klarstellen werde, mit dem Artikel nicht einverstanden bin, fällt es mir schwer, mir vorzustellen, gegen welche Standards er verstoßen hat.“ Theuns wundert sich über die Zensur und fordert die gleiche Meinungsfreiheit für Akademiker, die es auch für Karikaturisten gibt.[9] Ein Regierungssprecher hat einen Gegenartikel verfasst, mit dem Titel „Frankreichs Säkularismus bedeutet Freiheit und Schutz für alle“.[10] Seltsam genug, dass ein Regierungssprecher sich in eine akademische Debatte einmischt. Wieder scheint die französische Regierung dafür zu sorgen, dass unangenehme Artikel verschwinden.

Die französische Regierung hat mehr als klargemacht, dass sie nicht nur die Meinungs- und Ausdrucksfreiheit, sondern auch die Pressefreiheit mit Füßen tritt, wenn es ihr passt. Dabei werden regelmäßig Journalisten eingeschüchtert, wie etwa die Le-Monde-Journalistin Ariane Chemin, die vom Inlandsgeheimdienst vorgeladen wurde. Sie hatte in einem Video Macrons Sicherheitschef erkannt, wie dieser, verkleidet als Polizist, Demonstranten zusammenschlug. Mit dieser Veröffentlichung bescherte sie dem Präsidenten einen seiner größten Skandale (Benalla-Affäre).[11] Andere Journalisten wurden vom Geheimdienst verhört, weil sie französische Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien aufdeckten.[12]

Zensur findet auch in den sozialen Netzwerken statt. Dort gibt es schon länger eine systematische Löschung von Accounts unter dem Vorwand, dass diese politische Propaganda betreiben würden. Nicht verwunderlich, dass nur bestimmte Staaten betroffen sind. Als einer von vielen sei hier Professor Mohammad Marandi erwähnt. Der Professor für Englische Literatur und Orientalismus an der Universität Teheran berichtet, dass seine Accounts bei Facebook und Instagram zusammen mit hunderten anderer gelöscht wurden. Zusätzlich gibt es einen Shadow-Ban auf Twitter. In seinen Beiträgen thematisiert er hauptsächlich die Verbrechen des Westens, insbesondere der USA, an muslimischen Nationen.

Ein Dauerthema, wenn es ums Löschen geht, ist das Thema Holocaust. Allein das Wort lässt sofort die Alarmglocken schrillen. Was kommt jetzt? Wird jetzt der Holocaust geleugnet? Jeder Leser vermutet sofort eine Positionierung und findet sie selbst dort, wo sie eigentlich gar nicht steht. Imam Chamenei stellte in einer Rede die Frage:

„Warum ist es ein Verbrechen, Zweifel am Holocaust zu erheben? Wieso soll jeder, der über derartige Zweifel schreibt, eingesperrt werden, während es erlaubt ist, den Propheten (s.) zu beleidigen?“

Das bezieht sich auf das Verbot, den Holocaust zu hinterfragen, das es in einigen Staaten gibt. Offenkundig geht es ihm darum, dass man es nicht erlauben soll, den Propheten (s.) zu beleidigen, und nicht darum, den Holocaust zu leugnen. Der Holocaust dient hier nur als Beispiel für eine Grenze der Meinungsfreiheit, die staatlich akzeptiert ist. Es gibt also offenbar Grenzen. Nach welchen Kriterien werden diese Grenzen gesetzt?

Nun kann man diese Frage rational diskutieren. Man könnte argumentieren, dass man mit diesem Thema sensibler umgehen sollte als mit dem Propheten des Islam, weil man über das Leid anderer keine Witze machen darf. Oder man könnte anführen, dass mit der historischen Nähe auch eine größere Verantwortung einhergeht, die insbesondere Deutschland trägt. Oder man könnte sagen, dass das Leugnen des Holocausts denen in die Hände spielt, die eine Spaltung der Gesellschaft vorantreiben wollen und eine Minderheit diskriminieren wollen. Oder weil man historische Tatsachen nicht leugnen darf.

Welche Kriterien man auch immer dafür haben mag, welche Meinung erlaubt und welche verboten sein soll: Man muss sie transparent machen, damit jeder beurteilen kann, ob hier ein doppelter Standard vorliegt oder nicht. Möglicherweise kann man dann erkennen, dass es gut ist, dass man für Beleidigungen des Propheten des Islams geehrt und für die Hinterfragung des Holocausts von der Gesellschaft ausgeschlossen wird. Oder man erkennt, dass hier doppelte Standards angewandt werden und die Muslime diskriminiert werden.

Aber statt logisch zu argumentieren, wurde in sehr vielen Medien berichtet, dass Imam Chamenei den Holocaust geleugnet hätte. Niemand ging auf die Frage ein, die er stellte. In Twitter forderten etliche Journalisten die Löschung des inoffiziellen Accounts, der Imam Chameneis Aussagen twittert. Das sind die gleichen Leute, die bei jeder Beleidigung des Propheten des Islams behaupten, dass der Meinungsfreiheit keine Grenzen zu setzen sind.

 

http://www.indexoncensorship.org/2008/09/sine-of-the-times/ ↩︎

https://de.wikipedia.org/wiki/Anschlag_auf_Charlie_Hebdo ↩︎

https://daserste.ndr.de/panorama/aktuell/Charlie-Hebdo-Kam-der-Terror-von-aussen,paris292.html ↩︎

https://en.wikipedia.org/wiki/Les_Temps_modernes#cite_ref-Contat,_Le_Monde._5-0 ↩︎

https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/idomeneo-debatte-das-abschlagen-von-koepfen-ist-nicht-trivial-a-440573.html ↩︎

https://archiv.offenkundiges.de/was-darf-satire-nur-islamfeindlichkeit/ ↩︎

https://thefinanceinfo.com/2020/11/03/macrons-war-on-islamic-separatism-only-divides-france-further/ ↩︎

https://www.ft.com/content/016b5b65-a220-48ea-a330-9d13855892ab ↩︎

https://orientxxi.info/magazine/islam-debat-a-une-voix,4268 ↩︎

https://www.politico.eu/article/frances-secularism-means-freedom-and-protection-for-all/ ↩︎

https://taz.de/Le-Monde-Journalistin-vorgeladen/!5597888/ ↩︎

https://www.france24.com/en/20190523-france-journalist-summons-french-intelligence-benalla-macron-freedom-press ↩︎

 

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