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Deutschlands spirituelle Erwachen: Vom Unglück zu Gott

18:52 - March 28, 2021
Nachrichten-ID: 3003962
Die Spiritualität Deutschlands erlebte in den letzten Jahrzehnten einen beispiellosen Niedergang. Aber in diesem historischen Tief erscheinen die Vorzeichen eines spirituellen Erwachens, das die von Materialismus geprägte Vergangenheit unseres Landes zu überwinden vermag.

Ein Beitrag von Huseyin Özoguz

 

„Und wenn ein Schaden den Menschen trifft, erbittet er betend auf der Seite (liegend), im Sitzen oder Stehen. Wenn Wir ihm seinen Schaden behoben haben, geht er vorbei, als hätte er Uns nicht gegen einen Schaden, der ihn getroffen hat, angerufen. So wird den Maßlosen verlockend gemacht, was sie tun.“ (Heiliger Quran, 10:12)

In einer von Materialismus geprägten Welt geht schnell verloren, dass der Mensch nicht von Brot und Spielen lebt. Menschliches Leben setzt die Menschenerkenntnis als ein übersinnliches, geistiges, moralisches, spirituelles Wesen voraus. Übersinnlich, weil die Sinne stumpf sind. Geistig, weil der Mensch nicht Körper ist. Moralisch, weil er nach Gutem strebt. Spirituell, weil … die Worte lassen vergangene Epochen christlicher deutscher Sprache anklingen: weil er nach Gott sucht. Nicht mehr als das ist Spiritualität: die geistige Suche nach Gott in Wort und Tat. Und sie ist dem Menschen näher als seine Gedanken – jedem Menschen.

Selbst der gläubigste Naturalist verliert seinen Glauben im Angesicht großer Drangsal und wendet sich an Gott. Freilich um schmerzlich oft nach seiner Erleichterung zu seinem falschen Glauben zurückzukehren. Das gilt in Abstufungen auch für spirituelle Menschen, gar in der Gegenwart von Gottesmännern. So erzählt das Matthäusevangelium von den kleingläubigen Jüngern:

„Und er (Jesus) trat in das Schiff und seine Jünger folgten ihm. Und siehe, da erhob sich ein großes Ungestüm im Meer, sodass auch das Schifflein mit Wellen bedeckt wurde; und er (Jesus) schlief. Und die Jünger traten zu ihm und weckten ihn auf und sprachen: ‚Herr, hilf uns, wir verderben!‘ Da sagte er zu ihnen: ‚O ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?‘ Und er stand auf und befahl dem Wind und dem Meer; da wurde es ganz still.“ (Matthäus, 8:24–26)

Dieselben Jünger, die kurz zuvor dutzende Heilwunder ihres Meisters aus nächster Nähe bezeugt hatten (Matthäus 8:14 ff.), ergriff die nackte Angst im Angesicht hoher Wellen – während der Gottesmann schlief. Und sie wandten sich in ihrer Verzweiflung an den Anker Gottes, der ihnen nahe war, gleichwohl er sie für ihren Kleinglauben tadelte.

Die Spiritualität ist in den Menschen hard-gecoded. Was der Atheist als Grund für die mysteriöse Beständigkeit der Religion anführt, ist die göttliche Gnade eines leichten Weges zu Gott, des natürlichen Zugangs direkt aus der eigenen Seele. Die Tür dieses Wegs steht immer offen, aber ihre Anziehungskraft ist in Zeiten der Erschwernis nicht zu leugnen.

Es waren stets die Armen und Entrechteten, die Verzweifelten und Gebeutelten einer Gesellschaft, die ihre Ohren vor der Einladung der Gottesleute nicht verschlossen. Umgekehrt waren es die Vornehmen, Oberen und Reichen, deren Herzen zu beklommen waren, ihre Augen zu öffnen. Die scheinbare Gnade des Wohlstands versperrte ihnen den Zugang zur Tür des Gottespfads.

Prophet Muhammad (s.) wurde, obwohl selbst durch seine reiche Ehefrau Chadidscha (a.) kein Mittelloser, von der Armenschicht Mekkas unterstützt, nicht von den Männern und Frauen seines materiellen Standes, die ihn erbittert bekämpften. Auch die islamische Revolution und die Anhängerschaft Imam Chomeinis wurzelte in den Mustadafien (Schwache, Entrechtete) des Irans. Nicht weil die Verzweifelten anfällig für jeden Heilsversprecher wären, wie der blinde Hohn meint, sondern weil sie sich ihrer Spiritualität nicht gänzlich versagt, sie nicht unter dem Götzentum der Welt vergraben haben.

Deutschland ist heute kein Land der Spiritualität. Der Abwendung von der Kirche scheint dem kurzen Blick zufolge eine Abwendung von Religion und gar Spiritualität an sich gefolgt zu sein. In der Tat klingen Worte wie Sünde, Gottesfurcht, Erlösung, Gottesgedenken, gar Gebet oder Scham, obgleich urdeutscher Herkunft, wie aus einer anderen Welt – deren letztes Reservat in verstaubten Gesangsbüchern mit der Kirche zerbröselt und die in wenigen Jahrzehnten ihren Platz im Wörterbuch verlieren werden.

Aber das ist ein Irrtum. Es spricht eine Menge für eine Auferstehung der Spiritualität in unserem Land:

1-Jedem Strom folgt ein Gegenstrom, jeder Kraft wird begegnet. Und so ist rein strukturell, ohne inhaltliche Betrachtungen, ein Aufleben der Spiritualität nach trostlosen Jahren des Materialismus in Deutschland früher oder später notwendig zu erwarten.

2-Die Bedingungen für die Hinwendung zu Gott stehen in Deutschland unter einem guten Stern: Die Schere des Reichtums spreizt sich immer stärker, die Umverteilung von Arm zu Reich wird immer dreister – gerade mit den zahlreichen Korruptionsskandalen während der Pandemie –, die Absicherung materieller Bedürfnisse und die Aussicht auf das Alter immer wackeliger; vermuten doch Deutsche mit Jahrgang in den 80ern zurecht, dass ihre Rente im Vergleich zu ihren Großeltern verschwindend ausfallen wird. Global nimmt die wirtschaftliche Bedeutung und das Ausbeutungspotenzial des Westens, und damit auch Deutschlands, rapide ab. Was nach einem Niedergang einer Weltmacht klingt – und genau das ist es –, eröffnet den Deutschen eine Chance, die kein materieller Reichtum zu bieten vermag.

3-Nicht ganz Deutschland hat seine Religion vergessen. Neben vereinzelten Christen leben hier inzwischen Millionen deutscher Muslime, deren alltägliche Bindung zu Gott lebendig ist. Und die sie intensivieren und lehren sollten, mit Fokus auf jene, die hören wollen, nicht auf jene, die auf Streit und Debatten aus sind.
Deutschland hat eine lebendige spirituelle Vergangenheit in Kunst und Kultur, an die wir anknüpfen können, denn „Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag“ (Bonhoeffer, 1944).

Ein spirituelles Deutschland erfordert keine Generationen, sondern mag uns überraschen wie der Dieb in der Nacht. Ein Deutschland, in dem die Menschen nicht allein im Unglück sich an Gott wenden, sondern sagen: „Uns wird nur das treffen, was Gott uns bestimmt hat. Er ist unser Schutzherr. Auf Gott sollen die Gläubigen vertrauen.“ (Heiliger Quran, 10:12)

 

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