IQNA

Ehemaliger UN-Reporter im Interview mit IQNA:

Israel versucht öffentliche Meinung von seinen Verbrechen in Gaza abzulenken

11:45 - April 29, 2024
Nachrichten-ID: 3010384
IQNA- Der ehemalige Sonderberichterstatter der UN ist überzeugt, dass der Premierminister des zionistischen Regimes Benjamin Netanyahu seine Ziele im „unmenschlichen“ Krieg in Gaza nicht erreichen konnte und durch Verschärfung der Spannungen mit dem Iran versucht den Konflikt auszuweiten, um die öffentliche Meinung abzulenken.

Die beispiellose Operation Irans gegen das zionistische Regime, die als „Wahrhaftiges Versprechen“ bezeichnet wird, fand in politischen Kreisen der Welt breite Beachtung.

Die überwiegende Mehrheit der unabhängigen Experten und Analysten betrachtet diesen Angriff als legitimes Recht Irans als Reaktion auf Gesetzesverstöße und Eingriffe in das iranische Konsulat in Syrien, das nach internationalen Gepflogenheiten als Teil des Staatsgebiets des Landes (hier Iran) gilt.

In diesem Zusammenhang sprach IQNA mit Richard Falk, dem UN-Sonderberichterstatter zur Menschenrechtslage in den besetzten palästinensischen Gebieten und fragte ihn nach seiner Analyse zu den politischen und rechtlichen Aspekten dieser Operation.

Richard Anderson Falk wurde 1930 in New York geboren. Er studierte Wirtschaftswissenschaften und anschließend Rechtswissenschaften und promovierte 1962 in Rechtswissenschaften an der Harvard University.

Richard Falk ist Autor oder Co-Autor von 20 Büchern und Herausgeber oder Co-Herausgeber von 20 weiteren Titeln. Im Jahr 2008 ernannte der Menschenrechtsrat der UN (UNHRC) den Völkerrechtsprofessor für eine sechsjährige Amtszeit zum UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechtssituation in den besetzten palästinensischen Gebieten.

Der pensionierte Professor für internationales Recht an der Princeton University ist überszeugt, dass Netanyahu die Ziele der äußerst destruktiven und unmenschlichen Reaktion Israels auf die Al-Aqsa-Sturmoperation nicht erreichte und dass er mit dem Angriff auf das iranische Konsulat in Damaskus die Option einer Ausweitung des Kriegs verfolgt um den Iran zur Hauptbedrohung der Interessen des Westens zu machen.

Einzelheiten dieses Gesprächs wie folgt:

 

IQNA – Was sagen internationale Gesetze und Konventionen über Angriffe auf die diplomatische Vertretung eines Landes?

Die Immunität konsularischer Einrichtungen gegen Angriffe jeglicher Art ist eine der angesehensten und unbestreitbarsten Verpflichtungen des Völkerrechts, die im Wiener Übereinkommen über konsularische Immunität formalisiert ist. Auch ohne Berücksichtigung dieser Konvention wird Israel verpflichtet sein andere Grundsätze einzuhalten, die als Teil des „völkergewohnheitsrechtlichen Rechts“ gelten. Bei diesen Normen handelt es sich um die sogenannten „jus cogens“, die als verbindliche Regeln bekannt sind (die im internationalen Brauch vereinbarten Grundsätze, die von der internationalen Gemeinschaft akzeptiert werden und deren Verletzung für kein Land und keine Institution zulässig ist) und für alle unabhängigen Regierungen unabhängig davon, ob sie diesem Vertrag beitreten oder nicht ist er bindend. Eine Nichtmitgliedschaft entbindet die Staaten nicht von der Einhaltung des rechtlichen Rahmens. In diesem Fall sind solche Argumente unnötig, da sowohl Israel als auch Iran sowie 191 andere Länder Mitglieder der Wiener Konvention sind.

 

IQNA – Nach dem Angriff Israels auf das iranische Konsulat in Damaskus forderte Teheran den UN-Sicherheitsrat auf den Angriff zu verurteilen, doch der Rat lehnte dies aufgrund der Unterstützung USAs für Israel ab. Was bedeutet diese Untätigkeit, wenn wir die Verantwortung der UN für die Wahrung des internationalen Friedens betrachten?

Ein solches Vorgehen der UN im UN-Sicherheitsrat um Israel von seinen Verpflichtungen zur Einhaltung des Völkerrechts hinsichtlich der konsularischen und Botschaftsimmunität zu entbinden ist eine Erinnerung daran, dass die UN bei der Durchsetzung des Völkerrechts schlecht aufgestellt ist. Die Gewährung des Vetorechts an die fünf siegreichen Länder des Zweiten Weltkriegs ist wohl der größte Misserfolg der UN bei der Erreichung ihrer wichtigen Kriegspräventionsziele.

Tatsächlich formulierten die Architekten der UN im Jahr 1945 das Völkerrecht auf Grundlage der Priorität dieser fünf geopolitischen Akteure hinsichtlich der Umsetzung oder sogar Auslegung ihrer jeweiligen rechtlichen Verpflichtungen. Obwohl in der UN-Charta nur fünf Ländern ein Vetorecht eingeräumt wird, haben insbesondere die USA dieses Recht genutzt, um den Willen der Mehrheit der Länder und Mitglieder der UN zu vereiteln, ihre Freunde und Verbündeten von ihrer Verantwortung zu entbinden.

Vor einigen Jahren beklagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan diese Situation mit den Worten: „Die Welt ist größer als fünf. Die Welt mag größer sein, die UN jedoch nicht. Es gibt viele Probleme im Zusammenhang mit der Gewährleistung der Umsetzung des Völkerrechts durch UN-Mitglieder. Es gibt Länder, die kein Veto gegen UN-Entscheidungen einlegen können aber eine besondere Beziehung zu einem der fünf Vetoländer haben die ausreicht, um jede UN-Durchsetzungsinitiative dagegen zu blockieren.“

Wenn solche Angriffe nicht kontrolliert werden, welche langfristigen Folgen hat das für das Völkerrecht?

Die Auswirkungen auf das Völkerrecht sind die gleichen wie schon immer in der Neuzeit. Wenn rechtliche Verpflichtungen mit den strategischen Interessen mächtiger Staaten kollidieren setzt sich die geopolitische Politik durch und die Kernverpflichtung der Rechtsstaatlichkeit (Gleichbehandlung) wird ignoriert. Dies gilt ebenfalls für die Geschichte der internationalen Beziehungen vor der UN.

Ein gutes Beispiel sind die Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg und Tokio im Jahr 1945, bei denen die Verbrechen der Sieger der rechtlichen Prüfung entzogen waren, während die Verbrechen der Verlierer angeklagt, strafrechtlich verfolgt und bestraft wurden. Genauer gesagt wurde den Tätern der Atombombenabwürfe auf japanische Städte und der Bombardierung deutscher Städte Straffreiheit gewährt. Eine Doppelmoral, die als „Erobererjustiz“ bekannt ist.

Es wäre jedoch falsch zu dem Schluss zu kommen, dass das Völkerrecht nutzlos sei, weil es geopolitischen Fragen unterworfen sei. Eine wirksame internationale Rechtsordnung ist notwendig um die Stabilität der Beziehungen im Zusammenspiel souveräner Staaten aufrechtzuerhalten. Handel, Investitionen, Finanzen, Kommunikation, Reisen und Tourismus sowie Diplomatie sind einige der Bereiche des internationalen Lebens, in denen gegenseitiger Nutzen und Praxis der Gleichheit wichtig sind.

Darüber hinaus kann eine „verantwortungsvolle Regierungsführung“ durch die Top-Länder (hiermit meinen wir nicht die Top-Länder der politischen Akteure, die in der UN Vetorecht haben) den einseitigen Einsatz des Vetos verhindern. Viele glauben, dass die USA die UN durch „unverantwortliche Machtausübung“ untergraben haben. Das Ausmaß in dem die USA die Beziehungen zwischen der UN und Israel auf extreme Weise verwalteten ist klar. Darin spiegeln sich sowohl innenpolitische Erwägungen als auch internationale Streitigkeiten wider.

Wenn beim Angriff auf das iranische Konsulat in Damaskus internationale Gesetze eklatant verletzt werden und Israel vor einer Strafreaktion in der UN geschützt wird, wirkt sich dieses Verhalten auf die Weltmeinung aus und stellt die Legitimität internationaler Gesetze in Frage, die von prominenten geopolitischen Akteuren verletzt werden.

In antikolonialen Kriegen nach 1945 gewann meist die militärisch schwächere Seite auch weil das Völkerrecht und der Verlauf der Geschichte sie begünstigten. Kurz gesagt, das Völkerrecht ist, auch wenn es nicht von Staaten oder der UN durchgesetzt wird nützlich um die Zivilgesellschaft zu einer Vielzahl gewaltfreier Maßnahmen zu mobilisieren. Dieser Prozess trug vor 30 Jahren zum Zusammenbruch des Apartheidregimes in Südafrika bei und setzt Israel angesichts des Völkermords im Gazastreifen immer stärker unter Druck.

 

IQNA – Der Iran gab bekannt, dass er von seinem legitimen Recht Gebrauch machte sich zu verteidigen als er Israel angriff. Was sagen internationale Gesetze dazu?

Es gibt mehrere Probleme. Umfasst ein Angriff dieser Art wie illegal er auch sein mag das Recht auf Selbstverteidigung wie es in Artikel 51 der Charta der UN verankert ist? Ein weiteres Problem des Völkerrechts hängt mit der Frage der Verhältnismäßigkeit und Diskriminierung zusammen. Die Schätzungen variieren hinsichtlich des Ausmaßes des iranischen Angriffs: 170 oder mehr Drohnen, 120 ballistische Raketen und 30 Marschflugkörper. Dieser Angriff richtete jedoch nur geringen Schaden an und niemand kam ums Leben. Auch Iran hatte die USA und andere Regierungen teilweise über seine geplanten Vergeltungsmaßnahmen informiert. Es ist möglich wie einige Kommentatoren sagten, dass der Iran seine Vergeltung für den israelischen Angriff auf das Konsulat in Damaskus eher symbolisch als als umfassenden Angriff gedachte.

Was eine Regierung als Reaktion auf eine solche einmalige Verletzung ihrer Souveränität unternimmt wird anhand der bisherigen Praxis bewertet und beurteilt. Wenn es sich an ein solches Verfahren hält, wird es legitimiert und weithin als vernünftig angesehen wohingegen es wenn nicht als inakzeptabel provokativ angesehen wird. Israel reagierte auf den Angriff des Iran am 14. April als inakzeptablen Provokationsakt während der vorherige israelische Angriff zum Tod hochrangiger iranischer Streitkräfte führte.

 

IQNA – Einige Analysten glauben, dass das israelische Regime das Konsulat ins Visier nahm, um die Spannungen mit dem Iran zu eskalieren und es als Deckmantel nutzt, um weiterhin Palästinenser in Gaza zu ermorden. Was ist Ihre Meinung dazu und wie kann Tel Aviv für seine Verbrechen in Gaza zur Verantwortung gezogen werden?

Wie bereits erwähnt, ist es Netanyahu nicht gelungen, die Ziele der äußerst destruktiven und unmenschlichen Reaktion Israels auf den 7. Oktober zu erreichen und hat die beste Option darin gesehen den Krieg so auszuweiten, dass Iran zum Hauptkonkurrenten westlicher Interessen wird. Die Abschwächung des Krieges in der Ukraine angesichts der Ereignisse in Gaza macht diese Art von „ablenkender Politik“ gerechtfertigt. Israel ist ein Meister darin die öffentliche Aufmerksamkeit von seinen Verbrechen auf seine Kritiker oder weniger besorgniserregende Themen zu lenken.

Solange der Westen, insbesondere die USA Israel unterstützt ist eine Rechenschaftspflicht im rechtlichen Sinne nahezu unmöglich. Jeder Versuch die Verantwortung durch die UN durchzusetzen könnte durch Veto im Sicherheitsrat blockiert werden und die USA zögert dazu nicht. Eine Reaktion auf seine politische Bedeutung kann erreicht werden, wenn viele Regierungen im globalen Süden Israel als „verbotenen Staat“ behandeln, ähnlich wie in der Apartheid-Erfahrung in Südafrika. Wichtig sind auch Solidaritätsinitiativen, die in zivilgesellschaftlichen Aktivitäten verankert sind. Verantwortlichkeit im moralischen Sinne wird durch öffentliche Äußerungen der Empörung von Menschen auf der ganzen Welt sowie durch Frustration über die Nichtdurchsetzbarkeit von Entscheidungen des IGH deutlich.

 

IQNA – Was halten Sie von den Bemühungen des IGH Israel für seinen Völkermord in Gaza zur Verantwortung zu ziehen insbesondere angesichts der Tatsache, dass dieses Regime einen Angriff auf Rafah plant wo mehr als 1,5 Millionen Flüchtlinge Zuflucht suchten?

Die Antwort auf diese Frage bezieht sich komplexe Sachverhalte. Die Initiative des IGH die moralischen und politischen Verbrechen Israels beim Völkermord im Gazastreifen zu beurteilen war sehr wichtig. Der IGH war nicht in der Lage, die rechtlichen Anforderungen seiner Urteile vom Januar und März durchzusetzen, in denen er Israel aufforderte Maßnahmen zu ergreifen, um das Leid des palästinensischen Volkes weiter zu lindern. Israel brach mit Unterstützung der USA seine Verpflichtungen und scheint bereit zu sein Drohungen wahr zu machen und Rafah anzugreifen! Ein dicht besiedeltes Gebiet in dem schockierende Verluste zu erwarten sind!

Die Wirksamkeit des IGH und der UN wird im Allgemeinen durch die Krise der Strafverfolgung beeinträchtigt. Angesichts des hartnäckigen geopolitischen Widerstands mangelt es der Institution an Autorität, Willen und Fähigkeit das Völkerrecht durchzusetzen, geschweige denn globale Gerechtigkeit zu fördern. Wenn die UN stärker wird, wird sie ein starker Garant für die Schaffung einer internationalen Ordnung sein, die Verantwortung für den Schutz des Rechts einen Sinn verleiht. Aber in der aktuellen Praxis und in aktuellen Ereignissen ist eine derart gerechtfertigte Reaktion auf Völkermord undenkbar was erklärt, warum viele von der UN desillusioniert sind.

Interview: Mohammad Ali Haqshenas

Übersetzung ins Persische: Mohsen Haddadi

Übertargung vom Persischen ins Deutsche: Stephan Schäfer

 

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