Professor Liaqat Takim stammt ursprünglich aus Sansibar / Tansania. Er ist derzeit islamisch-rechtlicher Professor für Islamwissenschaften an der McMaster University in Kanada und international anerkannter Islamwissenschaftler. Er ist Autor und Übersetzer von acht Büchern und arbeitet derzeit an einem neunten Buch zur Koran-Interpretation. Er veröffentlichte über 140 wissenschaftliche Arbeiten und hielt Vorträge auf über 120 wissenschaftlichen Konferenzen weltweit. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Reformen des islamischen Denkens, Koraninterpretation, islamisches Recht, Einwanderergemeinschaften, Mystizismus, Islamophobie und Genderfragen.
Der Religionswissenschaftler erklärte in einem Interview mit IQNA: Der Arbaeen-Marsch ist, wie die Imam-Hussein-Bewegung ein Symbol des Widerstands gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Arbaeen ist eine der größten jährlichen religiösen Versammlungen der Welt, die in den letzten Jahren mehr als 21 Millionen Pilger nach Karbala im Irak lockte. Ich denke, dass Arbaeen selbst ein Symbol des Widerstands gegen Ungerechtigkeit und Tyrannei ist und die Botschaft dieser Bewegung in die ganze Welt getragen werden sollte.
Der vollständige Text des Interviews folgt:
IQNA – Professor Takim! Arbaeen wird oft als größte jährliche friedliche Versammlung der Welt beschrieben. Was unterscheidet Ihrer Meinung nach Arbaeen (nicht nur in Bezug auf die Größe, sondern auch in Bezug auf Bedeutung und Botschaft) von anderen religiösen Pilgerfahrten?
Der Grund, warum sich Arbaeen von anderen religiösen Pilgerfahrten unterscheidet, liegt nicht nur in seinem Umfang, sondern auch in seiner Bedeutung und Botschaft. Bedeutung und Botschaft von Arbaeen sind mit dem Geist der Opferbereitschaft verbunden. Nicht nur Opferbereitschaft, sondern auch Geist des Widerstands gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung ist die Botschaft des Aufstands von Imam Hussein (as).
Ich denke dieses Ereignis zeigt uns in vielerlei Hinsicht, dass der scheinbare Sieg zwar nur vorübergehend sein mag, der wahre Sieg jedoch ein moralischer Sieg ist. Wer für die Wahrheit eintritt ist der endgültige Sieger. Denn der Unterdrücker mag vorübergehend gewinnen, der endgültige und ewige Sieg erringt man jedoch wenn man für Gerechtigkeit, Gleichheit und Wahrheit eintritt und sich der Unterdrückung nicht unterwirft.
IQNA – Wie interpretieren Sie die theologische Bedeutung von Arbaeen im breiteren Rahmen der schiitischen Spiritualität? Inwiefern fungiert Arbaeein als Fortsetzung der Karbala-Geschichte?
Die Antwort auf diese Frage wurde bereits in der Antwort auf die erste Frage gegeben. Ich möchte hinzufügen, dass wir nicht nur auf die Werte Imam Hussains (as) achten sollten, sondern auch auf seine völlige Unterwerfung und Hingabe an Gott. Dies ist die spirituelle Bedeutung von Arbaeen und Karbala im Allgemeinen. Das bedeutet, dass Imam Hussain (as) sogar bis zur letzten Nacht um eine weitere Nacht des Gottesdienstes, Unterwerfung und Flehens an Gott bat.
Darüber hinaus unterbrach er selbst auf dem Schlachtfeld die Kämpfe um zu beten. Dies zeigt uns den Geist der Spiritualität im Islam im Allgemeinen und im Fall Imam Hussains (as) im Besonderen. Nun liegt es an uns die Geschichte von Karbala in unserem Leben weiterzuführen.
IQNA – Wie ist Arbaeen zu einer einigenden Achse für die globale schiitische Gemeinschaft geworden, einschließlich der Schiiten im Ausland und wie spiegelt sich dies in den Ritualen oder Erzählungen wider, die entlang der Arbaeen-Route geteilt werden?
Arbaeen ist zweifellos zu einer einigenden Achse geworden, da Schiiten aus aller Welt, aus Hunderten von Ländern in den Irak kommen, nicht nur um die Trauer um Imam Hussein (as) zu teilen und seine Opfer zu ehren, sondern auch um miteinander in Kontakt zu treten; um zu sehen wie andere Schiiten leben, welche Opfer sie für Imam Hussein (as) brachten und um gleichzeitig auf einer sehr tiefen spirituellen Ebene miteinander in Kontakt zu treten und an diesen Ritualen teilzunehmen.
Die Grundlage des Schiismus ist einheitlich. Natürlich gibt es kulturelle Unterschiede, da die Menschen aus verschiedenen Ländern kommen. Doch Arbaeen wurde zu einem verbindenden Symbol für Schiiten aus verschiedenen Teilen der Welt. Alle kommen dorthin, um der großen Opfer Imam Husseins (as) zu gedenken.
IQNA – Im heutigen medialen und politischen Klima erhielt das Arbaeen-Fest trotz seiner Größe wenig internationale Aufmerksamkeit. Warum wird Ihrer Meinung nach eine so eindrucksvolle Opferbereitschaft im globalen Diskurs oft ignoriert oder an den Rand gedrängt?
Ich glaube ein Teil des Problems liegt bei uns selbst. Das heißt: Wir, die Anhänger von Imam Hussein und Anhänger der Ahl al-Bayt (AS), wendeten uns nicht an die Medien und erklärten ihnen wer Imam Hussein war und welche Opfer er brachte.
Wir müssen auf verschiedenen Ebenen eine viel stärkere Medienpräsenz haben; ob in den sozialen Medien, im Fernsehen oder Zeitungen – die sozialen Medien sind heutzutage sehr einflussreich. Ich glaube nicht, dass wir die sozialen Medien wirklich nutzten um die Opfer von Imam Hussein zu verstehen und warum Arbaeen für uns so wichtig ist.
IQNA – Die Gastfreundschaft der irakischen Bevölkerung – durch Tausende von Prozessionen, kostenlose Mahlzeiten, medizinische Versorgung und Anbieten von Unterkunft – wurde zu einem der prägenden Merkmale des Arbaeen-Festes. Welche ethischen oder spirituellen Prinzipien des schiitischen Denkens liegen dieser Tradition des selbstlosen Dienstes zugrunde?
Ich glaube, dass uns dieses Ereignis ein tiefes Gefühl der Aufopferung, Vergebung, Güte und Liebe füreinander vermittelte. Imam Hussein verbindet uns nicht nur, sondern schuf auch Werte, die wir nicht nur in der Bereitstellung von kostenlosen Speisen und Getränken, medizinischer Versorgung und Unterkunft, sondern auch in der Liebe und Zuneigung füreinander erkennen können. Uns verbindet die Liebe zu Imam Hussein (as) und die Liebe zur Ahlul Bayt (as) und natürlich verbindet uns die Liebe zu Gott.
Dass wir trotz unserer Unterschiede, die größtenteils kultureller und oberflächlicher Natur sind, auf einer eher inneren und spirituellen Ebene ein tiefes Gefühl der Verbundenheit miteinander haben und zwar aufgrund von Imam Hussein (as) und Arbaeen.
IQNA – Wie können wir die Symbolik des Arbaeen als Reaktion auf Ungerechtigkeit und Tyrannei im heutigen Kontext verstehen? Insbesondere, da Gerechtigkeitsbewegungen auf der ganzen Welt Karbala zunehmend als moralischen Rahmen darstellen.
Das ist eine sehr wichtige Frage. Ich denke, Arbaeen selbst ist Symbol des Widerstands gegen Ungerechtigkeit und Tyrannei. Es ist eine Botschaft, die wir der ganzen Welt vermitteln müssen. Arbaeen selbst ist ein Gefühl. Deshalb trauern wir. Es ist eine Möglichkeit mit dem Leiden von Imam Hussein (as) in Verbindung zu treten. Wir geben unser Blut, geben alles, aber wir lassen nicht zu dass die Werte Gottes und Lehren des Propheten (Friede sei mit ihm) zerstört oder geschmälert werden. Mit anderen Worten: Arbaeen ist Symbol dafür, dass wir angesichts von Ungerechtigkeit nicht schweigen können.
Im Fall Gaza sehen wir, dass es vor allem Schiiten aus dem Iran und anderen Teilen der Welt sind, die nicht nur ihre Abscheu über die Geschehnisse zum Ausdruck brachten, sondern den Menschen in Gaza auch nach Kräften helfen und sich gegen die Unterdrücker stellten.
Dies ist eine wichtige Frage, denn insbesondere im Westen, wo wir leben gibt es einen intensiven Dialog zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Es ist wichtig die Geschichte von Karbala in diesen Dialog einzubeziehen. Mit anderen Worten: Wir sehen Imam Hussein (as) nicht nur als schiitische Figur, sondern auch als menschliche Gestalt, denn die Werte für die er stand gelten für alle Menschen, unabhängig ob sie Muslime oder Nichtmuslime sind.
Ja! Das Opfer von Imam Hussein (as) kann und sollte als Brücke für einen tiefen Dialog zwischen den Religionen auf einer anderen Ebene dienen. Aber wir müssen sicherstellen, dass wir im Dialog in unseren Reden, in unseren Schulen oder wo auch immer wir unterrichten die Geschichte von Imam Hussein (as) darstellen und sie Nicht-Muslimen erklären; insbesondere, wer Imam Hussein (as) war. Warum trauern wir bis heute? Viele Menschen fragen: Warum weinen wir um Imam Hussein (as)?
Wir sollten versuchen ihnen zu erklären, dass dies geschieht um den Glauben zu festigen, dass diese Opfer und edlen Beispiele, die Imam Hussein (as) uns gab, niemals vergessen werden sollten und was noch wichtiger ist, dass wir an diese Werte glauben und sie in unserem täglichen Leben praktizieren.
Das Interview führte Mohammad Ali Haghshenas
Übersetzt ins Persische von Mohsen Haddadi
Übertragen vom Persichen ins Deutsche von Stephan Schäfer
4299585