IQNA unter Berufung auf Arab 21: Der arabische Politikanalyst Qassem Qusayr untersuchte in einer Notiz anlässlich der Woche der Einheit die Bemühungen der letzten Jahre, Einheit unter den Muslimen zu schaffen. Die Übersetzung dieser Notiz lautet wie folgt:
Jedes Jahr im Monat Rabi al-Awwal des Hijri-Kalenders feiern Muslime den Geburtstag des Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm). Einigen Überlieferungen zufolge fällt sein Geburtstag auf den 12. Rabi al-Awwal, andere auf den 17. Rabi al-Awwal. Um diese historische Diskrepanz zu überwinden, erklärte die Islamische Republik Iran die Tage zwischen dem 12. und 17. Rabi al-Awwal zur Woche der Islamischen Einheit. In dieser Zeit finden in allen arabischen und islamischen Ländern Konferenzen, Feiern, Seminare und gemeinsame Aktivitäten statt.
Doch wo stehen die Vereinigungsexperimente heute? Erreichten diese Experimente in den fast hundert Jahren seit ihrem Beginn ihre Ziele? Welchen Stellenwert haben islamische Einheitsprojekte heute angesichts der großen Herausforderungen vor denen die Muslime stehen, insbesondere im besetzten Palästina und angesichts des Versuchs des zionistischen Regimes das Projekt Großisrael umzusetzen, das viele arabische Länder einschließt und möglicherweise sogar einige islamische Länder erreicht?
Um die Rolle islamischer Einheitsprojekte im Gegensatz zum westlich US-israelischen Projekt zu verstehen ist es notwendig einen kritischen Blick auf die Erfahrungen der Araber und Muslime mit der Vereinigung seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute zu werfen.
Mit den großen Umbrüchen mit denen das Osmanische Reich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts konfrontiert war wurden angesichts des westlichen Kolonialismus und zionistischen Projekts neue Forderungen nach einer Reform der islamischen Welt und nach Einheit laut. Zu diesen Forderungen zählten Shakib Arslan, Jamal al-Din Afghani, Scheich Muhammad Abduh, Abdul Rahman al-Kawakbi, Scheich Amin al-Husseini, Izz al-Din al-Qassam und andere Gelehrte, Denker, Reformer und Mudschaheddin. Doch all diese Forderungen blieben erfolglos. Nach dem Ersten Weltkrieg zerfiel das Osmanische Kalifat. Frankreich und Großbritannien dominierten die Region. Mit der Balfour-Deklaration wurde das zionistische Regime etabliert.
Um diesen Entwicklungen entgegenzuwirken entstanden islamische Bewegungen, allen voran die Muslimbruderschaft. Es folgten Aufrufe zur islamischen Einheit und Abhaltung von Konferenzen zur islamischen Vereinigung. Die wichtigsten davon waren die Konferenz von Mekka 1925 und die Konferenz von Jerusalem 1931. Auch in arabischen und islamischen Ländern fanden weitere Konferenzen statt. Neben der Einheit der islamischen Länder, der Auseinandersetzung mit konfessionellen Differenzen und dem Kolonialismus war das Thema Palästina das Hauptanliegen der Muslime.
Im Laufe von fast hundert Jahren wurden Dutzende intellektueller und politischer Initiativen ergriffen, um die muslimische Gemeinschaft zu vereinen, religiöse Unterschiede zu überwinden und die Gemeinschaft angesichts der zionistischen Besatzung Palästinas und der westlichen Dominanz über das Land Palästina zu einen. Muslimische Gelehrte, religiöse Autoritäten und islamische Institutionen bemührten sich durch Dialog, Bücher und Studien.
Es gibt auch gemeinsame Anstrengungen, darunter die Gründung der Stiftung für die Nähe islamischer Schulen in Ägypten im Jahr 1947, die die Zeitschrift „Risalah al-Islam“ veröffentlichte und wichtige gemeinschaftliche Forschungsergebnisse enthielt. Al-Azhar in Ägypten druckte kürzlich Ausgaben dieser Zeitschrift nach und die Institution blieb bis 1979 in Betrieb, als die Islamische Revolution im Iran siegreich war.
Die Organisation der Islamischen Konferenz, später umbenannt in Organisation für Islamische Zusammenarbeit, schuf ebenfalls einen einheitlichen islamischen Rahmen der sich auf den politischen Aspekt im Hinblick auf kulturelle und juristische Fragen konzentrierte. Im Iran wurde außerdem das Weltforum für die Nähe islamischer Denkschulen ins Leben gerufen und im Libanon wurde 1982 die Vereinigung muslimischer Gelehrter gegründet.
Im Jahr 2004 gründete Scheich Yusuf al-Qaradawi die Weltunion muslimischer Gelehrter. In den Vereinigten Arabischen Emiraten wurden außerdem der Rat muslimischer Gelehrter und in London die Islamic Unity Association gegründet, die islamische Intellektuelle und Aktivisten zusammenbringt. Darüber hinaus entstanden Verbände und Institutionen, die sich für regionale Integration und einen arabisch-türkisch-iranisch-kurdischen Dialog einsetzen.
In den letzten fünfzig Jahren fanden in verschiedenen arabischen und islamischen Ländern sowie in Europa und USA Hunderte von Konferenzen zur islamischen Einheit statt, die detaillierte und dokumentierte Studien erfordern. Darüber hinaus wurden Tausende von Büchern veröffentlicht, die zur Einheit aufrufen und sich mit spaltenden Themen befassen – im Gegensatz zu Büchern und Aktionen, die religiöse Zwietracht und Konflikte schüren.
Doch trotz all dieser intellektuellen und politischen Bemühungen um Einheit bleiben die Unterschiede zwischen den Muslimen weiterhin bestehen – ob aus politischen Gründen oder aus Gründen, die in der Rechtswissenschaft, im Glauben, in der Geschichte oder in Interessen verwurzelt sind. Und wann immer innerhalb eines Landes oder zwischen zwei Ländern politische Meinungsverschiedenheiten auftreten, brechen auch religiöse und ethnische Differenzen wieder auf.
Die wichtigste Erfahrung islamischer Einheit war der Widerstand gegen den westlichen Kolonialismus und das zionistische Projekt, insbesondere unter den Widerstandskräften im Libanon, in Palästina und einigen Ländern der Region. Daher wuchsen die Bemühungen sich dem zionistischen Projekt oder der westlichen Hegemonie entgegenzustellen und die islamische Gemeinschaft schloss sich stärker zusammen und distanzierte sich von religiösen, ideologischen und politischen Differenzen. Umgekehrt brachen religiöse und ideologische Differenzen erneut auf, sobald sich die islamische Gemeinschaft vom zionistischen Projekt distanzierte und in politische Auseinandersetzungen, Konflikte oder Machtkämpfe verwickelt wurde.
Heute brauchen wir eine umfassende kritische Auseinandersetzung mit allen Erfahrungen der Vereinigung, um einen kohärenten Staat zu schaffen, der intellektuellen, ideologischen und religiösen Pluralismus anerkennt. Konfessionelle, religiöse oder nationalistische Differenzen dürfen kein Grund für Konflikte und Krieg sein. Dies erfordert einen neuen Ansatz für unsere arabische und islamische Realität, eine Neudefinition der Prioritäten und die Überwindung historischer Differenzen.
Einheit, Zusammenarbeit und die Anerkennung der Vielfalt unter Muslimen, Arabern und allen Teilen der islamischen Gemeinschaft sind die einfachsten Regeln für Sieg und Erfolg. Alle Wege führen zu Gott und die Zahl der Wege zu Gott ist, so manchem intellektuellen und philosophischen Sprichwort zufolge, so groß wie die Zahl der Menschenseelen. Vor diesem Hintergrund können wir religiöse Unterschiede überwinden und unser Land und unsere Nation auf einem soliden Fundament aufbauen. Juristische oder intellektuelle Unterschiede können, anstatt Spaltung und Konflikte zu verursachen, zu einer Quelle von Reichtum und Macht werden.
Werden wir also aus unseren Erfahrungen lernen und uns zusammenschließen, um dem Projekt eines Großisraels entgegenzutreten oder werden wir erneut in religiöse, historische und politische Konflikte verwickelt?
Übersetzt ins Persische von Fereshteh Seddiqi
Übertragen vom Persischen ins Deutsche von Stephan Schäfer
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