
Die Zahl der getöteten Palästinenserinnen und Palästinenser im Gazastreifen liegt weit höher als bislang offiziell bestätigt. Nach neuen Schätzungen eines Forscherteams des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock sind in den vergangenen zwei Jahren mindestens 100.000 Menschen getötet worden – möglicherweise mehr als 125.000. Die Daten liegen der ZEIT vor und werfen ein neues Licht auf das Ausmaß des anhaltenden Genozids an der palästinensischen Bevölkerung.
„Die tatsächliche Zahl der Toten werden wir nie exakt kennen“, sagt Irena Chen, Co-Leiterin des Forschungsprojekts. „Aber die jetzt errechnete Größenordnung macht sichtbar, wie extrem die Untererfassung ist – und wie massiv der Verlust an palästinensischem Leben tatsächlich sein dürfte.“
Massive Untererfassung der Opferzahlen
In ihren Berechnungen nutzten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedliche Datenquellen: Zahlen des Gesundheitsministeriums in Gaza, eine unabhängige Haushaltsbefragung sowie systematisch erfasste Todesmeldungen aus sozialen Netzwerken. Ihre statistische Hochrechnung wurde im Oktober im Fachjournal Population Health Metrics veröffentlicht.
Das Gesundheitsministerium in Gaza meldete für die ersten zwei Kriegsjahre 67.173 Tote – eine Zahl, die von israelischer Seite regelmäßig in Zweifel gezogen wird. Belege für Manipulation existieren jedoch nicht. Mehrere Forschungsteams stellten bereits fest, dass das Ministerium aufgrund zerstörter Infrastruktur eher zu niedrig zählt, da viele Todesfälle nicht mehr offiziell dokumentiert werden können.
Unter den Trümmern verschüttete Menschen, nicht geborgene Leichen sowie Tote in Regionen, in denen medizinische Versorgung zusammengebrochen ist, bleiben häufig unregistriert.
Eine Studie der London School of Hygiene and Tropical Medicine zeigte eine mutmaßliche Untererfassung von rund 41 Prozent. Eine weitere Erhebung des Palestinian Center for Policy and Survey Research kam Ende 2024 auf etwa 35 Prozent. Beide Analysen bestätigen: Die tatsächliche Zahl der Opfer des israelischen Vorgehens liegt erheblich über den offiziellen Angaben.
Besonders Frauen und ältere Menschen fehlen in den Statistiken
Das Forscherteam aus Rostock differenzierte die Todesfälle zusätzlich nach Geschlecht und Alter. Ein Ergebnis: Frauen werden deutlich seltener erfasst als Männer, und Todesfälle von Menschen über 60 tauchen besonders häufig gar nicht erst in der offiziellen Statistik auf.
Insgesamt errechnen die Wissenschaftler für die Zeit vom 7. Oktober 2023 bis zum 6. Oktober dieses Jahres zwischen 99.997 und 125.915 getöteten Palästinenserinnen und Palästinensern. Die mittlere Schätzung liegt bei 112.069 Todesopfern. Die Zahl umfasst ausschließlich Menschen, die direkt durch die israelischen Angriffe – vor allem durch Luftschläge – getötet wurden.
Ein Zusammenbruch der Lebenserwartung
Wie drastisch die Gewalt wirkt, zeigt sich in einer weiteren Zahl: der Lebenserwartung. Vor Beginn der israelischen Angriffe lag sie in Gaza bei 77 Jahren für Frauen und 74 Jahren für Männer. Für das Jahr 2024 errechnet das Max-Planck-Team nun 46 Jahre für Frauen und 36 Jahre für Männer.
Diese Werte bilden nicht die Zukunft ab, sondern zeigen die extreme Sterblichkeit eines Jahres, in dem das Leben der Zivilbevölkerung im Gazastreifen durch permanente Bombardierungen, Hungerblockade und systematische Zerstörung existenzieller Infrastruktur geprägt war.
Kinder als größte Opfergruppe
Erschütternd ist auch die demografische Struktur der Getöteten: 27 Prozent der Todesopfer sind Kinder unter 15 Jahren. Rund 24 Prozent sind Frauen. Die Forscher betonen, dass diese Verteilung von Alter und Geschlecht Mustern ähnelt, die die Vereinten Nationen in der Vergangenheit bei Genoziden dokumentiert haben. In klassischen Konflikten zwischen bewaffneten Gruppen wären die Opfer überwiegend junge Männer.
Im Gazastreifen hingegen sterben vor allem Menschen, die keinerlei Rolle im Kampfgeschehen spielen – ein Hinweis darauf, dass die Zivilbevölkerung systematisch und in großem Umfang getroffen wird.
Eine erschütternde Bilanz
Die neuen Berechnungen verdeutlichen das Ausmaß der Zerstörung palästinensischen Lebens im Gazastreifen – und zeigen, dass die offiziell kommunizierten Zahlen den tatsächlichen Horror nur unzureichend abbilden.
Während internationale Organisationen seit Monaten vor einem Zusammenbruch der humanitären Versorgung warnen, sprechen die neuen Daten eine klare Sprache: Die Zahl der getöteten Palästinenserinnen und Palästinenser liegt wahrscheinlich weit jenseits dessen, was lange öffentlich angenommen wurde und verweist auf einen staatlich ausgeübten Vernichtungsprozess, der immer deutlicher Merkmale eines Genozids trägt.
islamiq.de